Grimms Erben
Wucht in die Pedale, weil er bis zum Freibad, das er ansteuern will, versucht, seinem Schatten zu entkommen. Kurzzeitig denkt er, es wäre ihm gelungen, doch der zähe Hund heftet sich nach der Birkenallee wieder an seine gummibereiften Fersen.
Eigentlich ist ihm das öffentliche Bad nicht angenehm. Jedoch, und da spielt die Öffentlichkeit keine Rolle mehr, weiß er von Frau Cernaks Vorliebe für das Freibad. Kein erarbeitetes Wissen, sondern ein Zugeflogenes. Letzte Woche ist ihm diese Information während eines Gesprächs unter den Supermarktangestellten in sein unschuldiges Ohr geflattert. Locher weiß seitdem noch mehr. Die Cernak besucht jeden Donnerstag das Sonnenstudio »Sunny Side Up« neben dem Blumenladen in der Stadt.
In seinen Träumen holt ihn seitdem das Bild einer braungebrannten Cernaknixe ein. Es muss ja nicht beim Traum bleiben, und so riskiert Locher den Aufenthalt im öffentlichen Bad. Erhascht er nur einen Blick auf seine Angebetete in Schwimmtextilien, hat sich jeglicher Aufwand als rentabel erwiesen.
»Suchen Sie wen?«, fragt die Dame im Kassenhäuschen am städtischen Freibad.
»Wa… äh… rum?« Entgeistert schaut Locher die ältere und vor allem beleibte Dame an, auf deren Brustschild ein lachender blauer Delphin und der Name »Zilly« abgebildet ist.
»Ja, weil Sie hier eingepackt wie ein Schneeräumer antanzen. Bei dreißig Grad oder was. Und Tasche haben S’ auch keine dabei. Lang bleiben S’ nicht.«
»Äh… doch. Ich wollte die Badeeinrichtung…äh… mitbenützen… also nützen, Frau…äh…«, er blickt schnell auf ihr Schild, »…Zilly.«
Achselzuckend und kopfschüttelnd reicht ihm die Dame ein Billett mit dem Hinweis, er solle drei Euro bezahlen und sich vom Kinderbecken fernhalten. Locher weiß nicht, ob der Kopf mehr wackelt oder die Achseln stärker zucken oder ob das »Pfh«, das sie ertönen lässt, schnippisch oder eine Verabschiedung war. Durch ihren wuchtigen
Gesamteindruck verwandelt sich ihr Name auf dem Schild in »Godzilly«. Das teilt er ihr nicht mit.
Er wählt seinen Platz unter ein paar Linden. Den Parka lässt er an, viel los ist nicht, und das ist gut so. Er zieht ein kleines Büchlein aus den Weiten seiner unergründlichen Bundeswehrjacke und lehnt sich gemütlich an einen Baumstamm. Die wenigen Gäste, die schon da sind, haben bunte Decken oder Liegetücher ausgebreitet. Bastmatten sind nicht mehr so in Mode. Locher braucht nichts von alledem. Er hat seinen multifunktionalen Parka – Liegeunterlage, Transportmittel, Kleidung, Schutzanzug und sein Zuhause in einem.
»Der Zauberer von Oz« liegt leicht und drollig in seinen Händen. Sehr benützt, weil schon oft gelesen. Nach wenigen Minuten kommt Geruhsamkeit auf. Diese wandelt sich in Müdigkeit. Der Länge nach ausgebreitet, sieht Locher nun aus wie ein erlegter Jäger, vom Waidmannskumpel absichtsfrei niedergestreckt. Den »Zauberer« platziert er auf seinem Gesicht, Sie wissen schon, »Saug es auf!«, Locher-Theorie und so weiter. Er schläft ein.
Sein Traum trägt ihn quer durch die türkischen Bäder, nach denen er sich heute noch in seiner Hütte erkundigte. Nur dass in den Schwimmbecken kein Wasser, sondern Fanta sprudelt und die dunklen, männlichen Badegäste mit geflochtenen Gesichtshaaren und Badeanzügen auf der Flüssigkeit Kopfstände machen. Auf einem Thron an der Längsseite des Nichtschwimmerbeckens sitzt ein Kalif mit einem Gesicht aus Gold. Der Kalif ist Locher selbst. Er befiehlt nach Lust und Laune und schreit durch das orientalisch hallende Hallenbad: »Mehr Märchen, ihr holden Kopfständler. Mehr Märchen!«
Die Männer verwandeln sich in Pinienkerne, welche wippend auf der grünen Fanta tänzeln. Ihre langen Bärte schwimmen wie Schiffe in der trüben Limonade. Locher sitzt auf einmal nicht mehr auf einem Thron, sondern fummelt nach den Bärten, aus denen er sich eine prunkvolle und aerodynamische Sänfte spinnt. In dieser sitzend, trägt er sich selbst aus der Stadt hinaus. Die Stadt heißt Senfhausen und ist selbst für einen Träumer skurril, er war doch noch eben in der Türkei. Sich selbst schleppend, ächzt und schimpft er arg, das Eigengewicht zwingt ihn in die Knie, und er heißt sich eine fette Sau, die jahrelang nur immer auf Thronen herumsitzt und Feigen frisst. Er verteidigt sich mit den Worten: »Aber das ist doch mein goldenes Gesicht, das so schwer ist. Außerdem mag ich Feigen nicht – nur Datteln.«
Sein Träger-Ich rebelliert weiter: »Dann
Weitere Kostenlose Bücher