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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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doch. Richtig, sie stehen an der Wohnzimmerfotowand, ganz außen, etwas entfernt vom Rest der ganzen Lichtbilder. August hat sie da hingeschrieben.
    Auf den kahlen Wandfleck, den das Foto hinterlassen hat, das Großvater bei seinem Aufbruch mitnahm. Das sepiafarbene Foto, das zwei junge Burschen an einer großen Nähmaschine der Marke Singer, »Modell 29-DSV-205«, Baujahr 1931, zeigte. Einer war Großvater in Lederschürze. Der andere war »Ach, bloß so ein… ein anderer«, wie Opa meinte, falls August danach fragte. Auf dem goldbemalten hölzernen Bilderrahmen war in Großvaters schöngeschwungenen Lettern Folgendes zu lesen: Scharlih & Pip.
    Es hing ganz außen. Wieso das Bild, das Großvater als Jugendlichen zeigte, neben dem offenbar etwas jüngeren Mann, so angebracht war, kann nur daran liegen, dass dem besonderen Motiv ein besondere Position zugeteilt werden wollte. August versuchte, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, aber Großvater ließ sich nichts entlocken. Die Namen Scharlih & Pip standen August nichtssagend vor den Augen. Angebracht in Altschriftlettern auf dem Rahmen. Was blieb, ist ein weißer, kahler Fleck an der Wand, den der entwendete Rahmen hinterlassen hat. An dieser Stelle kritzelte August mit Bleistift Scharlih & Pip — zur Erinnerung. War Großvater Scharlih? Zacharias »Charly« Locher? War Pip der Name des anderen? Oder umgekehrt? Ein Rätsel.
    Kommen Sie mal näher ran, noch etwas näher, hier zu den Bildern, deren unterer Teil des Rahmens durch die leichte Wandkrümmung nicht anliegt. Sehen Sie das Foto? Auf diesem grinst sogar der alte Locher, und einmal sieht man ihn sogar in die Hände klatschen.
    Bei einem Foto schaut der Großvater grimmig, winkt aber doch mit der linken Hand in die Kamera. Vielleicht deutet Zacharias mit dem fehlenden Zeigefinger eine Antwort auf Augusts Frage an, wie lange sie sich zum Zeitpunkt der Ablichtung schon Familie nennen können. Viereinhalb Jahre nämlich. Großvaters buschige Augenbrauen und sein wilder grauer Bart standen seinem in Übermaß wuchernden Haar in nichts nach. Meist bändigte ein graugefilzter Hut die Frisur, so dass eine farbliche Einheit zwischen natürlicher Gesichtsbekleidung und angefertigter Kopfbedeckung bestand. Dieses Foto aber gibt die Furchen des hut- und zeigefingerlosen Großvaters preis und lässt ein bewegtes Leben erahnen, reich an Erlebnissen, reich an Geschichten.
    Oder schauen Sie mal, das hier, August und Zacharias stehen vor der Holzhütte. Die blendende Sonne malt ihnen ein schiefes Grinsen ins Gesicht. Wer das Foto, das einzige, auf dem beide gemeinsam abgelichtet sind, gemacht hat, weiß August nicht mehr. Er vermutet auf Selbstauslöser.
    Auf einem anderen Bild ist August mit fünf riesigen Büchern in den Armen abgebildet. Er droht nach vorne aus dem Rahmen zu kippen, so schwer scheinen die Folianten. Eins von vielen zwar immer gleichen, aber immer tollen Geschenken Zacharias’ an seinen Enkelsohn. Und immer dabei: Das Etymologische Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm. Ein Marathongeschenk, jedes Jahr zum Geburtstag ein weiterer Band. Seit dem ersten Zusammentreffen hält bei August die Begeisterung für dieses Belegwörterbuch zur Erklärung von Herkunft und Gebrauch eines jeden deutschen Wortes an. Das Absonderliche ist: Seit Großvaters Verschwinden kommt an Augusts Geburtstagen ein Paket über den Postweg ohne Absender mit einem neuen Band. Keine Postkarte. Kein Brief. Keine Nachricht. Nur das Buch.
    Seit Band 31 fehlt nur noch ein Exemplar bis zur Vollendung der kompletten Reihe. Was hat es damit auf sich? Macht sich wer über August lustig? Oder sitzt Zacharias auf einem unbekannten Flecken dieser Erde, tut, was er tun muss, und verschickt von dort weiterhin das verbindliche Geschenk an August? August grübelt oft darüber nach. Fragt sich, warum, wenn es Zacharias ist, keine Nachricht von ihm beiliegt. Manchmal streicht er über den Einband. Riecht an den Seiten. Saugt es auf in der Hoffnung, es möge sich eine versteckte Botschaft offenbaren. Er stellt das Buch zu den anderen in die Bibliothek. Dort ist genau noch ein Platz frei. Eine letzte Lücke für ein letztes Buch. Für Band 32. Wer wird ihn schicken? Ein Rätsel.
    Lichtbilder sind nicht das Einzige, was die Innenwände ziert. Auch nicht das Einzige, was die Erinnerungen aufrechterhält.
    Seit je prangt an der Wohnzimmerwand das Ölgemälde einer Berglandschaft, in der man sich als brennender Alpinist definitiv wohl fühlen würde. Um

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