Grimms Erben
verscheucht oder eine Oper dirigiert. Die kleinen Banausen, welche ihn vorhin als blöden Heini betitelten, machen ihn nach und kichern wie Erbsen. Locher vernimmt wenige Geräusche. Von ganz weit her. Kurz ist er geneigt, den Fokus seiner Aufmerksamkeit zu verändern. Jedoch drängt es ihn, und er setzt zum Sprung an, einen Finger an der Brillenbrücke, den anderen Arm zum halben Hechtsprung gestreckt. In Erwartung des kühlen Nass. Gleich ist er seiner Wasserelfe ganz nah.
Kurz bevor das Gleichgewicht sich aufzulösen droht, kommt ihm folgende schwerwiegende Erkenntnis, die er lautstark über das Chlorwasser posaunt: »Hilfe, ich bin Nichtschwimmer!!!«
Und das ist nun einmal im ersten Moment ein belustigender Anblick, wenn Sie sich am Rand eines Schwimmerbeckens nach achthundert Metern Freistil ausruhen und beobachten, wie ein untersetzter Mann in Unterwäsche mit der einen Hand seine Hornbrille festhält, mit dem anderen freien Arm rudert wie Pete Townsend von The Who an der Stromgitarre und brüllt: »Hilfe, ich bin Nichtschwimmer.« Klar, es hat was Slapstickhaftes und, weil Sie selbst lachen, etwas Diskriminierendes, aber wenn dem grotesken Menschen auf dem Startblock durch seine eigenen Ruderbewegungen die Feinrippunterhose nach unten wandert, Eltern entsetzt ihre Kinder aus dem Ort des Geschehens ziehen, Jugendliche Anfeuerungen und Ungepflegtheiten rufen, eine viel zu sehr geschminkte Frau mit rosa Stirnband an Ihnen vorbeischwimmt, lachend meint: »Um Himmels willen, das ist ja der irre Locher«, und Ihnen einen Scheibenwischer gestikuliert, ja, dann schätzen Sie diese Szene als sehr bizarr ein. Und nun, während Sie vielleicht immer noch kichern, warten Sie gespannt darauf, ob der Mann ins Wasser fällt und wirklich Nichtschwimmer ist, weil ein bisschen sensationsgierig sind wir alle. In dem Moment, wo das Schauspiel seinem Höhepunkt entgegenzueilen scheint, beendet ein hünenhafter Bademeister selbiges, indem er den Fastertrinkenden vom Startblock nimmt. Wie alle anderen applaudieren auch Sie, und geben humorvolle Äußerungen von sich, den blöden Heini betreffend. Mit einem entschlossenen »Auf geht’s« drehen Sie sich wieder Richtung Schwimmbahn, gehen in die Tiefe und stoßen sich ab, wollen weitere zweihundert Meter kraulen und vergessen: Sie waren gerade Teil einer Diskriminierung, die dem blöden Heini tagtäglich widerfährt.
Oh Gott, mach den Erdboden auf. Lass mich versinken.
Locher schält sich beschämt in seine Kleider. Vor ihm steht abwartend der Bademeister, der ein Hausverbot ausgesprochen hat.
Gebrüder Grimm, die ihr seid im Himmel, nehmt mich zu euch. Jetzt und sofort in der Stunde meiner Peinlichkeit.
Tränen stehen in Augusts Augen, fallen aber nicht. Sein Blick ist trüb.
Kurz vorm Abtransport des Bademeisters zu seinem Liegeplatz, noch im Fokus der Erheiterung, hatte Locher freie Sicht aufs Schwimmbecken. In dem glitt die Cernak am Beckenrand entlang und lachte. Locher verformte seine Gucklöcher zu Sehschlitzen. Trotz aller Scham und Peinlichkeit während des Badaufenthalts durchzuckte es ihn beglückt:
Die Cernak lächelte mich an. Und sie winkte mir. Sie mag mich. Da gibt es keine zwei Meinungen.
Er muss sich jedoch eingestehen: Diese in Unterhose vollführte Peinlichkeit und die Reaktionen der meisten Badegäste sind für ihn so beschämend, dass es vielleicht doch mehrere Meinungen gibt. Wäre er ins Wasser gefallen – er ist sich nicht sicher, ob ihn irgendwer gerettet hätte. Eine sehr traurige Erkenntnis.
Und überhaupt bemächtigt sich seiner Traurigkeit. Eine Traurigkeit, wie er sie vielleicht als Kind zum letzten Mal empfunden hat. In diesen Tagen, als ihn die auf ihn hereinprasselnden Gemeinheiten noch ins Mark trafen, oder besser gesagt, mitten ins Herz.
Als er mit Tränen in den Augen von der Lupardusstraße in den Markartplatz einbiegt, ein wenig zu schnell, das darf man sagen, bricht sein Vorderreifen aus, und er knallt längs auf den Asphalt. Bremst zuerst mit dem einen Ellbogen, dann mit Kinn und Nase. Einige geschlitterte Meter weiter kommt er zum Liegen. Ein Jugendlicher zückt sein Handy und schießt Fotos. Andere glotzen. Niemand hilft.
Locher steigt sich schüttelnd aufs Rad. Er will schnell weg. Er legt sein gesamtes Gewicht in den ersten Tritt. Die Pedale drehen durch, die Kette ist abgesprungen.
Locher schiebt sein Rad heim, begleitet vom Gelächter des Jugendlichen.
Nichts passt jetzt zum anderen.
Was für eine Boshaftigkeit steckt in
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