Grimms Erben
der hiesigen Polizeistelle sein. Sie könnte die Telefonnummer eines Herrn Mandlhut sein. Sie könnte die Telefonnummer von Gott sein. Locher hat sie noch niemals gewählt und will es auch niemals versuchen, denkt er.
Das Telefon schellt wieder, schrill und ungewöhnlich laut.
Fast zitternd greift er den Hörer.
»Wer?«
»Äh… hihihi… ist da Arsch – Locher?«, meldet sich eine Person in seltsamer Stimmlage.
»Ja… ja«, zögert Locher. »August Locher.«
»Nein… äh… Arschlocher will ich sprechen.« Ein Kichern im Hintergrund verspricht einige belustigte Personen am Apparat.
»Nein.« Locher stutzt. »Nein, August Locher hier.«
»Herr Arschlocher, wir haben eine Nachricht für Sie. Von Ihrem Großvater. Sie sollen den Wal zurück ins Wasser…«
Locher knallt mit der freien Hand auf die Gabel. Die andere Hand fixiert noch immer den Hörer an sein Ohr, das mit einem schrillen Tuuuuut ausgespült wird. Das Tuuuut hat Stacheln, Klingen und Säurehaltigkeit.
»Ihr Idioten«, flüstert Locher bitter in die Sprechmuschel, zwischen deren Löcher sich im Laufe der Jahre winzige Spinnweben gebildet hatten. Das Tuuuut kehrt zurück, dringt durch die Verästelung der Spinnweben in die Verästelung seines Gehörganges. Er entfernt den Hörer von seinem Kopf, bevor er auflegt, schüttelt er ihn vehement, so als ob durch diese Bewegung die Schmach aus der Horchmuschel poltern würde und er sie wie Abfall entsorgen könnte. Behutsam legt er den Hörer auf. Das Tuuuut surrt lange nach – es ist das Echo seiner sozialen Ausgrenzung.
»Ihr Dreckschweine.«
Der zweite Anruf in meinem Leben, und ich werde verarscht.
Locher hat weder Appetit noch Hunger, noch den Drang etwas zu verspeisen. Er verlässt das Haus und sucht die Geborgenheit des Waldes.
Einsamkeit hat noch jeden gerettet.
Verdruss ist die Mutter der Neuorientierung.
Z wei typische Locher-Theorien auf einen Schlag.
Neuorientierung erhofft er sich im Club seiner Kumpels. In der Geborgenheit seiner Baumfreunde. Schon schräg, aber ich bitte Sie, lieber holzige Freunde als hohle Feinde. Locher verfügt über beides, so kommt es ihm vor. Uns auch, wenn man alles zu einem Gesamtbild zusammenfügt.
Er wandert zwischen dem schattenspendenden Geäst des ihm vertrauten Forstes, verlässt den Pfad, um sich ein wenig im Dickicht zu bewegen. Aus grünem Farn fliegen Tiere auf. Bei ungenauer Betrachtung könnten es Feen sein.
Seine Suche nach einer bestimmten, umgekippten, riesigen Wurzel endet wie so oft erfolgreich. Somit ist es keine Suche, sondern ein Aufsuchen. Locher kennt sich in diesem Wald aus wie in seiner Hosentasche. Wobei er oftmals den Inhalt seines textilen Aufbewahrungsfachs nicht genau benennen könnte.
Locher kennt den Wald. Die Wurzel ist geformt wie die Hand eines Riesen. Ein weiträumiger Stuhl aus Moos und Holz, bequemes, naturelles Design. Die Engelhardts wären neidisch. Darin lässt er sich nieder, um all die Niedertracht zu vergessen. Locher bettet sich gemütlich in Rückenlage. Wie ein Trollkönig auf seinem Thron oder ein Elfenprinz in seinem Farnbett liegend, blickt er geradewegs in die ihm winkenden, blättrigen Hände grünbrauner Koboldkinder. Dryaden und Meliaden, die Nymphen der Eichen und Eschen, Faune, die Wächter der Hirten und Äcker, und Satyrn – alles gute Waldgeister –, die Locher um sich schart und sich somit in sicherer Begleitung weiß. Waldgeister: »Bricht die letzte Nacht dir an…«
Locher: »… dann gönn’ mir deine Einsamkeiten.
Und lass mich als stillen Mann…«
Waldgeister: »…in die ew’gen Wälder schreiten.«
Locher: »Amen.«
Nach diesem kurzen Gebet gen Blätterdach frei nach Karl Ernst Knodt schwirren Gedankenfetzen an ihm vorüber. Fragenfragmente schweben vorbei. Das eine oder andere ergreift er. Dreht und wendet es. Er fahndet kurz nach dem Ursprung seiner Isolierung, nach dem Grund seines Exils. Sein Schutzwall, seine Fassade bröckelt.
Wo ist Großvater? Warum ist er fort? Was soll diese Walskizze von Opa, die er in jungen Jahren anfertigte? Was soll der Wal? Was bedeutet Scharlih & Pip, Mandlhut, das Gemälde im Wohnzimmer und diese verdammte Blechschachtel, in der nichts zu fehlen scheint? Welche Aufzeichnungen waren in dieser Blechschachtel? Wer schickt jährlich Grimms Wörterbuch? Jede Geschichte hat ihre Moral, und das Schicksal verfasst die Spielregel. Aber hat jeder Vorgang seinen Sinn? Was soll ich denn noch hier? Streben? Forschen? Suchen?Nach der
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