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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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sich die Sätze durch die Dunkelheit zum Nachbarhaus gebohrt haben.
    Nun ertönt im vielstimmigen Chor: »Selber schuld!«
    Ein Konglomerat des Bösen?
    Sonderschulschurkerei verbündet sich mit Nachbarschaftsniedertracht?
    »Grimm und Ingrimm!«, flucht Locher. Was ist das für ein Tag heute?
    Die Polizei verständigt er nicht. Er wüsste nicht einmal die Nummer. Er hat ja noch nie mit dem Telefon im Haus Anrufe getätigt. Angerufen hat in all den Jahren, in denen er ohne Großvater hier lebt, nur einer. Der hatte sich verwählt.
    Die Eingangstüre will er selbst reparieren. Morgen. Oder Montag. Oder bald. Dennoch schließt er wie gewohnt den Schuppen mit dem Vorhängeschloss ab. Fassungslos schüttelt er erneut den Kopf. Juveniles Schlingeltum lässt sich erklären. Aber dass die Engelhardts sich eine Rotzbubenarmee anlegen, um ihren Standpunkt zu äußern, das ist ein Ausmaß besonderer Malignität.
    Ein Angriff auf mein Bücherheiligtum. Auf mein Leben.
    Wieder tippt Locher mit einem Zeigefinger auf die Spitze eines scharfen Geweihs. Prüft so Härte und Schärfe der Waffe des Waldtieres.
    Hörner möchte ich haben, denkt er erneut. In der Dunkelheit sieht die Hütte fast wie ein mit Stacheldraht umwickelter Igel aus. So viele Spitzen und Zinken.
    »Hörner werde ich haben!«, schreit er in die Richtung der Nachbarn.
    In seinen Händen hält er die Überreste der Bibel Grimm.
    Die wahre Bibel. Sie scheint verloren.
    »Hörner werde ich haben!«, ruft er ein zweites Mal.
    Es klingt wie eine Drohung. Eine Warnung an die Buchmörder Engelhardt!

    Mann versteckt Leiche im Wald
    Am Sonntag ist es warm. Locher ist traurig. Antriebslosigkeit frühstückt er am Vormittag, am Mittag inhaliert er Müßiggang, am frühen Nachmittag trinkt er Apathie. Die Trauer über den Verlust von Großvaters größtem Schatz wiegt schwer.
    »Die Türe der Hütte«, spricht er zu Nilrem, seinem Kanarienvogel. »Ich muss die Türe reparieren.«
    »Ziep, ziep.«
    »Oh, stimmt. Ohne Material wird das schwer. Morgen tu ich das.«
    »Ziep.«
    »Ja, morgen geh ich zum Baumarkt. Nach der Arbeit.«
    Nach der kurzen Unterredung mit seinem Gelbling zieht sich Locher wieder lethargisch aufs Sofa zurück. Sein Blick streift das Gemälde. Sie wissen, das mit den Bergen. Kurz versucht er, darin eine Geschichte zu finden, ein Rätsel zu lösen. Sein Kopf ist jedoch so leer, das sich das Bild zusehends verändert. Der Hirsch verlässt die Wiese, Wolken ziehen auf, ein Unwetter, gefolgt von Nebel, der alles unsichtbar werden lässt. Seine Augen wandern in die Küche. Dort hängt ein Korb mit Zwiebeln.
    Hunger? Ist es das, was ich gerade verspüre? Ich will essen. Oder ich muss.
    Langeweile schlägt Appetitlosigkeit. Er fängt an, sich im Kopf ein Mahl zusammenzustellen.
    Spitzbub, als Seelenbalsam. Nicht im Haus. Gemüsesuppe. Im Haus. Aber kein Lust. Nudeln mit Tomaten aus dem Garten. Alles in allem eine zufriedenstellende Alternative.
    Er will sich auf den Weg nach draußen machen, um ein paar saftige Tomaten zu holen. Er wirft sich seinen Parka über, greift nach dem Türknauf, da erklingt plötzlich ein ihm unbekannter Ton. Eine Art Signal. Locher fällt vor Überraschung fast in die Garderobe. Das Gehör ist hoch sensibel für bekannte, aber selten gehörte Tonstrukturen. So etwas nennt man den Senso-Effekt. Das weiß jeder. Könnte aber auch eine der Wahrheit ferne Behauptung von Karl Rettig sein. Lochers Ohren unterliegen dem Senso-Effekt, hin oder her.
    Er ruft: »Das Telefon!«
    Aufgeregt rennt er zum Apparat.
    Mich hat noch nie einer angerufen. Außer einer, aber der hat sich verwählt.
    Er schreit förmlich: »Das Telefon!!!« Aus der Küche piepst ebenso hysterisch eine Zustimmung.
    Verdutzt stiert er auf die beige Wählscheibe, auf der mittig die Nummern für Polizei und Feuerwehr eingetragen sein sollten. Da stehen sie aber nicht. Das Einzige, was da steht, ist ein Wort, das Zacharias Locher mit grauen Lettern dort niedergeschrieben hat, lange bevor August den Haushalt bereicherte. Was es bedeutet, weiß August nicht. Sein Großvater benutzte den Fernsprechapparat auch nur alle Jubeljahre. Das Ding stand immer nur rum. Deswegen fiel ihm das Wort, das zwischen den Löchern der Drehscheibe sich selbst zum Kreis schließt nie auf: Mandlhut. Es hatte keine Bedeutung. Ebenso wenig die darunter stehende Zahlenkombination. Offensichtlich eine Telefonnummer. Sie könnte von einem alten Bekannten des Großvaters sein. Sie könnte die Telefonnummer

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