Grimms Erben
und…«
»Los, Marlon, hier entlang.« Der Vater entfernt sich. Marlon Waldläufer bleibt enttäuscht stehen. Offenbar hätte er liebend gerne mit einem Waldmenschen, einem Suchenden, einem Trolltänzer, einem Utopier Bekanntschaft gemacht. Der Vater macht kehrt, zieht grob am Kragen des Kindes. Der Ruck an der Jacke lässt Marlon aufheulen. Locher ruft dem Vater nach:
»Wehe, dreimal wehe, wer die Hand zur Gewalt erhebt, vor allem gegen Kinder und Waldläufer! Kinder, die nach Phantasie lechzen, sollte man lassen. Entlassen. In Traumwelten. Eintauchen müssen sie. Und aufsaugen, was sie sehen und erleben. Das besonders. Und Sie müssen es begleiten, Ihr Kind, Sie ängstlicher Mensch. Und überhaupt: Jede Geschichte hat ihre Moral, hören Sie?!«
Der Vater und der Sohn sind längst im Eiltempo aus seinem Blickfeld verschwunden. Lochers Worte verklingen zwischen Bäumen, Blättern, Nadeln, Tannenzapfen, Vögeln, Waldtieren, Insekten, Bakterien. Sein Denken und seine Bedenken surren in Wortform durch Äste, Vergabelungen, über Pfade, Wege und Lichtungen, Äcker, Raine, Zäune, Häuser, Straßen hinweg – hinaus in die Welt.
Ein leichter Wind schwirrt durch die Blätter. Er führt Regen mit. Tropfen schälen sich durchs Geäst. Auf Lochers Parka bilden sich dunkle Flecken.
Weint der Wald? August kommt es so vor.
Wo die wilden Kerle tönen
Triefend vor Nässe, noch immer, tritt Locher in sein Haus. Schwere Gedanken drücken auf sein Gemüt. Was fällt dem Mann im Wald ein, seinen Buben um ein Stück zauberhaftes Abenteuer zu bringen. Locher drängt es nach einer gehörigen Katharsis. Wie lässt sich der Dreck, der auf der Seele haftet, sonst noch abspülen? Mit ordentlich Bass in der Stimme? Mit Pauken und Trompeten oder vielleicht mit einem Saxophon? Ob Chris Potter es vermag?
Er spielt heute. Im »Blue Note«, dem Jazzclub der Stadt. Den gibt es seit 1979. Locher dosiert seine Besuche. Hingabe braucht Regelwerk. Einmal im Monat, falls das Programm stimmt, sitzt er in der hintersten Ecke im Dunkeln und lauscht. Inmitten swingenden Tabaknebels, hier ist Rauchen noch erlaubt, klopft er mit einem Strohhalm den Takt. Oder mit den Fingern. Dieses Stück Hingabe kostet aber auch Überwindung, schließlich bleibt es nicht aus, dass er bei einer solchen Exkursion unter Menschen muss. Menschen, die jedoch die Liebe zu dieser Art von Musik teilen. Es sind stumme Verbündete.
Helge Schneider hat hier gespielt. Auch Klaus Doldinger. Dennis Harper und andere Altmeister. Charlie Parker ist immer da. Als Plakat wacht er über der Theke, als wolle er die Trinkfestigkeit der Zuhörer testen. Sein Saxophon ruht auf dem Schoß. Sein hellwacher Blick trifft auf die Augen des Betrachters, als wollen sie sagen:
»Trink dich groovig, aber versauf nicht dein Gehör. Du brauchst es für meine Töne!«
Seine Lieder laufen hier heavy rotated, in persona war er nie hier.
Meist sind es Jazzbands, die sich einige Standards aus der Lunge pressen. So wie heute Chris Potter, Altsaxophonist aus Amerika, New York. Mit Band. Was für ein Gast. Locher fährt hin. Mit einer Vorfreude, die ihm unter den Kieferknochen die Lymphknoten anschwellen lässt. Zu Hause föhnt der Jazz vom Vinyl durch die alte Braun, hier aber dreschen die Künstler ihm hautnah und live die Synkopen entgegen.Jetzt aber schnell. Hinein.
Es gießt immer noch aus vollen Rohren. Als Locher die Tür zum »Blue Note« aufreißt, nimmt er die zauberhaften Klänge einiger Blechinstrumente wahr. Es riecht typisch modrig, eine Mixtur aus Bier, Rauch und Feuchtigkeit, die in alten Gebäuden zum Inventar gehört. Lochers vom Regenwetter verstopfte Nase tropft wie ein Wasserhahn.
»Hundswetter.« Locher tritt an die Kasse. An der sitzt ein junger Mann.
»Pisswetter«, sagt der. »Trotzdem, vierzehn Euro.«
»Bitte.«
»Vierzehn Euro.«
»Das heißt vierzehn Euro, BITTE.«
Hat denn Gott und die Welt die Manieren verloren?
»Maria und Joseph.« Locher schüttelt den Kopf. Er fischt sein Briefkuvert aus der hinteren Hosentasche. Er holt den Inhalt hervor, den ganzen. 11 Euro, 98 Cent. Peinlich berührt zwickt es in seiner Magengegend. Das kennt jeder, der im Falle einer Zahlungspflicht zu wenig Geld bei sich trägt. Aber haben Sie dann auch eine Notration am Mann, so wie Locher, der immer einige Euro extra in seiner Parkatasche liegen hat? Er greift in die linke äußere. Dort findet er – eine Schnecke. Eine Nacktschnecke.
Wo kommt die denn…
Locher fällt ein, dass der
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