Grimms Erben
Vergangenheit?Nach der Gegenwart?Nach Großvater? Du elender Heimlichtuer, wo bist du hingegangen?
Er streicht sich mit seiner linken Hand über den Talisman, der an einem Lederband stets um seinen Hals baumelt. Eine kleine Holzfigur namens Eustachius, der Nothelfer bei schwierigen Lebenslagen und Trauerfällen. Es ist das letzte Geschenk seiner Mutter. »Nimm, August, behalte es immer bei dir. Dann sind wir uns nahe. Auch, lieber August, wenn ich nicht mehr bei dir sein kann.« Der hölzerne Eustachius ist der Dreh- und Angelpunkt seiner Erinnerungen an die verstorbene Mutter. Die letzten Bilder ihres Gesichts hängen an dem Stückchen Holz, ihre letzten Worte halten sich in den Kerben und Schnitzungen versteckt. Er hat es seither nur einmal abgenommen, um das Lederband ein wenig zu weiten. Seine rechte Hand auf Eustachius ruhend, grübelt er, wohin denn der Großvater ging, ob er noch lebt und wer denn den vorherigen Anruf initiierte. Er grübelt, ob sein Auftreten in der Gesellschaft hinterfragungswürdig oder ob seine Umwelt arm an Toleranz und Respekt ist. Es stimmt ihn traurig, dass die Diskrepanz zwischen ihm und seinen Mitmenschen immer mehr zur Diskriminierung wird. An wem oder was ist das festzumachen? Auch folgende Frage interessiert ihn, sozusagen brennend:
Wer hat wohl gestern die brennende Schuhschachtel vor seine Bibliothek gelegt?
Eine Antwort will ihm auf die Schnelle nicht einfallen. Ist jetzt auch nicht so wichtig, wobei:
Wer kniet sich wo über eine Kartonage und lässt sein Stoffwechselendprodukt auf eigenen Befehl in diese Schachtel fallen? Vielleicht unter Anfeuerungsrufen neugieriger Mittäter. Wenn so was ein Mensch war, dann aber Respekt.
Kurz kommt ihm in den Sinn, dass Herr Malangré, zumindest sein Hund Bombay, an dem üblen Brandanschlag beteiligt gewesen sein könnte. Als Rat- und Kotgeber. Er überdenkt, ob er doch noch die Polizei einschalten sollte. Es war immerhin ein terroristischer Akt, er hätte verbrennen können. Die Polizei könnte anhand der Beweismittel, vielleicht anhand der Fäkalspuren, und seiner Aussagen die Täter dingfest machen.
Die Engelhardts hinter schwedischen Gardinen, die Rotzbuben ins Erziehungsheim im hinteren Sibirien.
Andere, weniger Unrat betreffende Themen sausen durch sein Gehirn, aber nicht weniger wichtig. Sinn und Unsinn von Sinnlichkeit, welche Rolle spielt die Cernak in seinem Leben, beruht die Liebe auf Gegenseitigkeit, wo liegt das Leid bei Leidenschaft? Und immer wieder: Jede Geschichte hat ihre Moral!
Seine Ruheposition ist dermaßen gemütlich, dass er vom Sinnieren ins Schwelgen kommt. Seine persönlichen Reisen in ureigene Ängste vermischen sich mit Traumsequenzen.
Er verliert sich in einer Locher-Fiktion, in der er als Ritter Länder bekämpft, welche von Rotz und Feuer, von Telefonterror und Schuhschachteln bedroht werden. Er schlummert, schläft ein, dreht er sich wie gewohnt auf den Bauch. So gerät er unter zwei lange Arme der Wurzel, verwächst Stück für Stück mit Flora und Fauna. Käfer krabbeln an seinem den Waldboden bedeckenden Parka empor. Ein leichter Wind lässt Äste und Nadeln auf ihn regnen. Der gleiche Wind biegt Farngräser über seinem Beinkleid zusammen, ein Specht landet behände auf seinen Schuhen, pickt triolisch an der Sohle. Ohrwürmer krabbeln vorsichtig über seine Füße, Tausendfüßler kitzeln ihn am Ohr, das wie ein Baumpilz aus seinem Parka ragt. Fluginsekten lassen sich auf ihm nieder. Unter dem Baldachin aus Baumkronen, Blättern und Farngräsern wird er selbst zur Natur. Schläft friedlich inmitten dieses Tempels voll Chlorophyll.
Zwei Menschen dachten heute Morgen, ein Waldspaziergang, das ist recht. Sie fuhren zum Wald am Ortsrand und jetzt streifen sie durchs Unterholz. Ein Vater und sein achtjähriger Sohn, der mit einem rutenähnlichen Ast gegen Blätter schlägt. Er springt behände über bemooste Baumstämme und schreit immer wieder: »Vorwärts, ihr Männer. Gebt’s ihnen. Mit den Schwertern. Vorwärts, ihr Waldläufer!«
Bei jedem Satz saust der Stock auf imaginäre Feinde. Sein Vater streift hinter ihm her, die Luft genießend. Seinen Sohn im Auge. Der Bub überwindet agil echte und erdachte Hindernisse, verschwindet hinter Bäumen, wirbelt wieder hervor.
»Gebt’s ihnen, Waldläufer!«
Sein Vater lacht zwischendurch, fasst hier und da nach einem Tannenzapfen und schleudert ihn ins Gestrüpp.
»Los, ihr Waldläufer, haut ihn…« Keine Äste knacken mehr, die Stille kommt
Weitere Kostenlose Bücher