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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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plötzlich. Der Junge verharrt wie versteinert. Der Schreck lässt ihn zunächst verstummen, dann ruft er:
    »Papa, da hat ein Mann eine Leiche im Wald versteckt!«
    Vater und Sohn stehen über einem Leichnam, der im Waldboden verankert scheint. Wie lange mag der da liegen? Überwuchert. Eine Ameisenstraße führt vom Hals den Rücken entlang und verschwindet im Unterholz. Auf dem Hinterteil sitzt gelangweilt ein Hirschkäfer, seltenes Stück. Der Junge schlägt übermütig mit seinem Stock gegen das Gesäß.
    »Nicht, Marlon«, ermahnt ihn der sichtlich nervösere Vater. Er nimmt ihm das Stück Holz ab.
    »Papa, wieso ist der tot?«
    »Der… der ist nicht…« Er fummelt dem Leichnam mit dem Stock am Ohr herum, an dem gerade eine Nacktschnecke versucht, den Knorpelbogen zu umrunden.
    »Es war einmal!«, fährt der Leichnam hoch.
    »Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaargh!«
    Vater und Sohn stoßen zurück. Der Vater stürzt. Der Sohn sprintet hinter den nächsten Baum. Eine Toteneiche.
    Der Leichnam kratzt sich hastig am Ohr. Dann reibt er sich die verquollenen Augen unterhalb seiner Brillengläser.
    »Um Himmels willen!«, entfährt es dem Vater, der wieder auf die Beine gekommen ist.
    »Was soll das? Wer… wer sind Sie?«
    Sein Sohn versteckt sich nicht mehr hinter der Eiche, aber hinter seinem Vater.
    »Ich ruhe hier«, sagt der Leichnam selbstverständlich.
    »Wir dachten, Sie ruhen hier in Frieden«, gibt der Vater immer noch erschrocken zurück. Er zieht seinen Sohn schützend an sich, vermutet er doch einen Waldschrat oder Rübezahl in dem Ding, das da im Wald liegt. Zumindest einen von den Toten Auferstandenen.
    »Meinen Frieden suche ich. Aber nicht den ewigen.«
    Durch die Baumwipfel scheinen Sonnenstrahlen, welche aber abrupt ihre Leuchtkraft einbüßen. Vom Wetterumschwung abgeschnitten. Licht weicht durch verästelte Tunnel, die den Blick auf dunkle Wolken preisgeben.Tunnel am Ende des Lichts. Der Leichnam richtet sich vollständig auf. Dabei fallen Ungeziefer, Blätter und Zweige von ihm ab. Als würde eine Wurzel zum Leben erweckt, ein Ent, ein Baumhirte, der sich nach Jahrmillionen zum Bewegen entschlossen hat, als hätte ihm Tolkien selbst den Odem eingehaucht. Vater und Sohn weichen einen weiteren Schritt zurück.
    »Papa, ist das ein Troll?«
    Der Bub, der vorher noch so mutig als Waldläufer mit dem Schwert gegen Lochers Hosentasche schlug, ist eingeschüchtert, aber doch gespannt, was sich hinter dem seltsamen Wurzelwesen verbirgt.
    »Hören Sie, brauchen Sie Hilfe. Oder können wir jetzt gehen?« Der Vater, durchdrungen von Unsicherheit und Faszination, scheint den Nachhauseweg einschlagen zu wollen.
    »Papa, das ist ein Troll. Nicht wahr? Bist du ein Troll?«
    Locher gefällt der Gedanke sehr, und es reizt ihn, ein Troll zu sein. Seine Stimme wird noch dunkler.
    »Jawohl. Ein Waldmensch, ein im Baum Geborener, ein Freund von Fauna, Faunen, Flora, Trollen und allen guten Geistern der Natur.«
    »Hey, machen Sie dem Kind doch keine Angst, hören Sie!« Der Vater will sich mit seinem Sohn entfernen.
    »Hören Sie, Sie beide.« Lochers Stimme wird eindringlich. Sein rechter Zeigefinger fährt empor. Er bewegt sich weiter zwischen Schauspiel und Wirklichkeit. Findet weder komplett den Eingang in das eine, noch komplett den Ausgang aus dem anderen. Doch es gefällt ihm.
    »Ich bin ein guter Mensch, weder irre noch verrückt, ich bin ein Suchender, aber auch ein Verfluchter, wie manche sagen. Ich bin der Utopier. Deswegen ziehe ich durch den Wald. Wollt ihr mich begleiten? Nur bis zu meinem Haus.« Zu dem Jungen gewandt. »Ganz ehrlich, ich bin ein Troll. Ein Guter.«
    Lochers Körper beginnt in seltsamen, koordinativ hochkomplexen Bewegungen um die Sitzwurzel zu tänzeln. Das nachzuahmen würde Ihnen schwerfallen, ganz ehrlich, mir auch. Was tut der da? Es sieht aus wie ein mystischer Trolltanz. Plötzlich enden seine Bewegungen in der eingefrorenen Pose eines Moriskentänzers.
    Fordernd blickt Locher durch seine Panzergläser in die Runde. Die funkelnden Augen des Jungen sprechen Bände, er glaubt an den Zauber, an die Phantasie und die Unschuld des Waldschrates. Er lacht und streckt ihm die Hand entgegen.
    »Ich bin Marlon, ein Waldläufer.« Locher, völlig konsterniert, ob der namentlichen Fehlbesetzung des sympathischen, aufgeweckten Buben, ergreift die seine mit den Worten.
    »Kein Kind soll Marlon heißen. Aber deine Liebe zur Natur erfreut mich. Sei mein Gast Marlon Waldläufer

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