Grimms Erben
Wald und seine Bewohner immer für Überraschungen gut sind. Der Kassenmann kramt gerade nach der Rolle mit den Eintrittskarten, hat das Kriechtier nicht entdeckt, das kann Locher aus seinem Augenwinkel genau sehen. Er will das klebende Tier aus der Hand schütteln, damit es zu Boden fällt. Versuchen Sie das einmal, es ist nicht leicht. Das schleimige Ding verlässt Lochers Hand nicht im gewünschten Winkel und landet nicht unter dem Stehtisch, der als Kassentresen fungiert, sondern die abrupte Schüttelbewegung befördert die Schnecke im hohem Bogen in das Bierglas des Kassenmanns, das etwa einen guten Meter von August entfernt auf einem Barhocker steht.
»Bier«, erschrickt Locher.
»Was?« Der Kassenmann hat den Vorgang nicht beobachtet. Auch nicht aus dem Augenwinkel.
»Hier.« Locher streckt ihm eine Zwei-Euro-Münze entgegen und verschwindet rasch durch die Schwingtür. Viele Jazzfans haben sich noch nicht eingefunden und trotzdem ist genau sein Stammplatz besetzt. Von einer älteren Dame mit Hut, Kim-Zigaretten rauchend. Jetzt steht Locher unsicher im Raum, seine Hände wie ein Cowboy, der seine beiden Colts umfasst, in den Parkataschen vergraben. Er fühlt in der linken Tasche einen durchweichten Papierschnipsel, den er eigentlich ähnlich entsorgen will, wie das Klebetier vorhin, aber im letzten Moment macht er einen Fünfzig-Euro-Schein aus.
Wo kommt der denn…
Locher fällt ein, dass das Leben immer für Überraschungen gut ist. Ein Blick an den Tresen macht klar, der herkömmliche Barmann Winnie wurde ersetzt mit einem Sträfling in Freizeitklamotten. Lochers Ritual bekommt Dellen. Kein Stammplatz, kein Winnie. Hilft aber nix.
Er tritt an die Bar, seinen tropfenden Parka legt er nicht ab. Auf einem Barhocker neben ihm sitzt ein Mann, der vor sich eine Art Herrentäschchen liegen hat. Der Mann trinkt offenbar Pils. Eine abgestandene hellbraune Pfütze schwimmt in einem dafür eigentlich zu kleinen Glas. Der Mann stiert geradeaus in einen unbenützten Aschenbecher. Locher blickt über den Zapfhahn in Richtung Barkeeper. Ein aus Plastik gefertigter Trompeter versperrt ihm die Sicht. Locher stupst ihn liebevoll auf das Instrument. Die Figur kippt nach hinten und fällt neben einen mit Wasser gefüllten Maßkrug auf den Schanktisch.
»Oh.Ich… äh…«
»Hey«, versetzt der Mann hinterm Tresen. »Finger weg von Dizzy.«
»Disney?«, fragt Locher verwundert. »Das ist Dizzy Gillespie.«
Der Mann, der Locher nicht bekannt vorkommt, folgerichtig Locher im »Blue Note« noch nie bediente, stellt den Plastikjazzer wieder auf die Ablage der Zapfanlage.
»Verdammter Schlaumeier«, nölt der Barmann, der ein Geschirrtuch in den Händen hält. Er fordert durch eine schnelle Kopfbewegung eine Bestellung von Locher. In Locher stellen sich alle Zeichen auf Vorsicht, vor diesem Grobian muss er gewarnt sein. Verunsichert brabbelt er: »Oh… entschuldigen Sie, mir ein Bi… ein Bi… also Bils… äh… Pier… was hat der …«
Locher wendet den Kopf zum Herrentäschchenmann, der allerdings weiter geradeaus stiert. Wieder zum Barkeeper: »Das da!«
»Wie heißt das Zauberwort?«, will der Barkeeper wissen.
»Simsalabim«, antwortet Locher wie aus der Pistole geschossen. Im Grunde ist August Locher die Höflichkeit in seltsamer Person, aber die Vorfreude und Nervosität lassen sein ausgeprägtes Formgefühl löchrig werden.
Jetzt aber keinen Fehler mehr, August.
Locher dreht sich um, zählt die anwesenden Gäste. Der stumme PilsMann neben ihm, die Dame auf seinem Stammplatz, und neben der Bühne sitzen zwei ältere Typen. Der eine erinnert an Reinhold Messner, die Haarpracht des anderen an »Kentucky Waterfall«, Sie wissen, er trägt so eine gewellte Mittelhaarfrisur, welche sich im Nacken wie ein Wasserfall nach unten schlängelt. So eine Frisur, bei der das Gewissen frei von Vorurteilen sein sollte. Egal ob beim Träger oder beim Beurteiler.
Sonst ist noch niemand da, aber just in diesem Moment betreten vier Jugendliche das Lokal. Zwei Pärchen. Sie grüßen freundlich, auch Locher, der eilig zurückgrüßt, bevor es sich die Jugendlichen anders überlegen. Sie finden einen Platz in der Mitte des Raumes, den zwei Lautsprecher mit Saxophonläufen des Cannonball Adderley Quintett der Platte »Country Preacher« fluten.
Ein wohliges Gefühl durchfährt Locher.
Als er sich wieder dem Barkeeper zuwendet, steht ein halbes Glas Pils vor ihm. Lacke Materie, ohne Schaum und Kohlendioxid. Wenn das Pils ist,
Weitere Kostenlose Bücher