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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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im Takt und poltert mit den Schuhen.
    »Spielt! Play!« Locher erhebt sich ruckartig. »Play, ihr glandiosn Mens.More! Los!« Er schluckt eifrig aus seinem Glas. Die brennende Flüssigkeit rollt mittlerweile rund und ohne Widerstand die Kehle hinab. Von der Bühne brettern die Künstler groovige Erhabenheiten in den Zuschauerraum. Das Becken zischt und swingt, dicke Finger gleiten über dicke Kontrabasssaiten. Mr. Potter verbiegt seinen Oberkörper unter höchster Anstrengung, und es wirkt, als wolle er sein Saxophon mit beiden Händen zerknittern.
    »Press!« Locher winkt mit dem freien Arm. Er brüllt gegen die Musik an. »Blow, blow! Gjoßarteck. Is toll. Hey, you sseid schbisse.« Die Zunge fängt zu lahmen an, die Gesichtshaut ist längst pelzig, und sein Tänzeln liegt nicht nur an der mitreißenden Musik. Wind kommt auf. Seegang.
    Locher erhebt sich zum Getöse der Musik. Unter ihm vibriert der Untergrund. Chris Potter nutzt den Blues, um Brian Blade am Schlagzeug zu featuren. Chorusweise wechseln Saxophon- und Schlagzeugsoli in atemberaubender Korrespondenz. Der Ideenreichtum des explosiven Dialogs zwischen Front- und Sideman führt bei Locher zur Ekstase. Die Mixtur aus spontaner Kreativität und traumwandlerischer Routine der Ausnahmesolisten hinterlässt bei der Zuhörerschaft, aber vor allem bei Locher, pulsierende Wirkung. August legt stehend den Kopf in den Nacken und federt hypnotisiert auf und ab. Seinen Verstand längst aus dem Körper verbannt, wirkt er wie ein Voodoo-Mann, der seine wackelnden Arme zum Sonnengruß erhebt. Einige Zuschauer verfolgen ängstlich das abstruse Locher-Treiben. Und so geht es eben mit einem durch, der sich voll und ganz seiner Leidenschaft widmet, wenn Sie ehrlich sein wollen, das ist doch schon jedem von uns passiert. Absolute echte Hingabe kombiniert mit absolut schlechtem Asbach ergibt absolut bizarres Verhalten.
    Potter lässt die Blue Notes hinter sich, geht zu Quartenmelodik über, die an den späten Coltrane erinnert. Die ganze Musik ein Bombardement an geblasenem, gewirbeltem, getastetem und gezupftem Wahnsinn. Locher taumelt in den Zuschauerraum. Auf der Bühne hat sich die Zahl der Musiker längst vervielfacht – in Lochers Augen. Er brüllt zur überfüllten Bühne hoch: »Wa snihr?! Könnnimma spln oda ws! Sowas abach. Pottaaaaaa!«
    Er reißt sich die Jacke vom Leib. Das will was heißen. Die Hemdknöpfe segeln durch aggressives Zugverhalten am Kragen durch die Jazzbar. Sie drehen auf dem Boden lustige Kreise und erinnern an das Wogen des Ridebeckens von Brian Blade.
    Chris Potter fällt in eine hypnotische Triolenexplosion am Saxophon.
    Locher erweitert in Schieflage seinen Bewegungsradius. Er fällt in das Trinkglas der älteren Dame am hinteren Tisch, von dort auf den Boden. Ein Tohuwabohu auf ganzer Länge. Geschrei und Gezeter.
    Der Messnerverschnitt und der Kentucky-Waterfall-FrisurenBesitzer springen lachend auf und klatschen in die Hände. Immerhin im Takt.
    Die beiden jungen Pärchen gucken fassungslos in die Runde. Sie sehr bleich.
    Das Herrentäschchenmännlein an der Bar ist in Deckung gegangen.
    Weitere Anwesende eilen der Dame zu Hilfe.
    Der Barkeeper und der Kassenmann stürzen sich auf Locher. Sie tragen Utensilien der Bestrafung mit sich. Locher erkennt aus dem Augenwinkel verschwommen und flimmernd eine Machete, ein Schwert, eine Mofakette und einen Polizeiknüppel. Vielleicht malt ihm seine Phantasie, aber eher sein Alkoholpegel, solche Bilder vor die Linse. In Wahrheit strecken sie einfach nur ihre Hände nach Locher aus.
    Chris Potter beendet das Schlussthema im Flagioletteregister. Ein finale Grande der Jazzgeschichte. Solch einen Abschluss nach »Sonnymoon for Two« gab es noch nie. Der Amerikaner bedankt sich für die tosende Anteilnahme. Er deutet beschwingt auf seinen Schlagzeuger.
    »What a performance.«
    Dann auf den immer noch am Boden kauernden Locher, den zwei erwachsene Männer auf ihm sitzend zur Räson bringen wollen.
    »But not to compare with his.Thank you, man, that was a big bang! Wouldn’t surprise me, if you get house banned for a lifetime.«
    Und so viel Englisch verstehen wir alle, um zu wissen, dass Chris Potter diesen Eklat sehr richtig eingeschätzt hat. In seinem Musikerdasein hat er schon so einige Maßlosigkeiten erlebt. Sie müssen wissen, Jazzer stehen den Hardrockern in nichts nach. Wenn Sie denken, Mötley Crües Bandbiographie »The Dirt« sei der Gipfel der Darstellungen von Sexexzessen,

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