Grimms Erben
Drogenausschweifungen und Handgreiflichkeiten – Sie wollen nicht wissen, was so mancher Jazzsaxophonist bei Aftershowpartys mit seinem Instrument anstellt. Hausverbote inklusive. So auch bei Locher. Verbannt aus seinem Jazzhimmel. Bestürzend.
Schmerzen! Eine Kreissäge zerspaltet mit schrillem Geräusch eine Kokosnuss, welcher Lochers Kopf frappant ähnelt. Beim Eindringen des Sägeblatts in den Nussinnenraum spritzt bernsteinfarbene Flüssigkeit aus ihr heraus. Es entsteht eine ziemliche Sauerei und riecht nach Weinbrand. Locher sitzt auf einem Holzstuhl neben seinem Körper, der auf eine Theke angeschnallt scheint. Er sieht zu, wie der Barkeeper seinen Kokosnusskopf aufsägt. Im Hintergrund spielt Chris Potter keinen Jazz, sondern trötet auf seinem Saxophon die Melodie »Von den blauen Bergen kommen wir«. Die ältere Dame, mit der er gestern ein Tänzchen wagte, fächelt ihm Luft zu, während sie mit der anderen Hand an seiner Hosenöffnung nestelt. Sein Blick schweift zum Eingang, in dem eine menschengroße Schnecke sitzt und die Worte »Bitte«, »Danke« auf die glitschige Haut tätowiert hat. Der Korpus des Kriechtieres wabert zu Potters Sound. Ein Cognacglas ist über seinen Kopf gestülpt, wenn man bei einem solchen Tier von Kopf sprechen mag. Der Barkeeper sägt wohlgestimmt weiter, dringt immer tiefer in die Kopfnuss ein. Ein diabolisches Grinsen ist in sein Gesicht gemeißelt. Weiterer hochprozentiger Asbach schießt aus der Sägenaht. Die ältere Dame fummelt in Lochers Hosenstall, findet schlangenartig den Weg ins Innere und ruft plötzlich frivol und angetan »Glitschig!« in die makabre Runde. Sie zieht vorsichtig ein Teil aus seiner Hosenöffnung. Locher blickt mit Entsetzen auf seinen eigenen, vor ihm liegenden Unterleib. Was er da erkennt, macht ihn mürbe und fahl. Die Dame beschleunigt ihre Bewegung und zum Vorschein kommt – eine weitere Schnecke, seegurkengroß. Die Madame funkelt Locher an und spricht: »Macht neun Euro sechzig! Und Hausverbot!«
Locher erwacht in seinen schweißdurchtränkten Laken und schreit zitternd: »Grimm und Ingrimm!« Im nächsten Moment spürt er das Schwert im Haupt. Das Schwert der Gerechtigkeit. Seine Hand umfasst den schweren, pulsierenden Kopf. Der Traum mit dem Sägeblatt ist annähernd Wahrheit. Der gestrige Asbachkonsum äußert sich auf bestialisch ungerechte Weise. Locher fühlt starke Übelkeit, er hat Orientierungsschwierigkeiten und Pelz auf der Zunge. Aber keinen der Firma Rieger, sondern einen der Marke »Räudiger Kojote«. In seinem Kopf scheint ein Stacheldraht verlegt worden zu sein. Jede Bewegung schmerzt höllisch, vermischt mit dem flauen Gefühl des Alkoholmissbrauchs, wie wir es alle vermutlich kennen. Ein Morgen, an dem man sterben möchte.
Wie er in sein Zuhause kam, bleibt ihm rätselhaft. Ob mit Hilfe, was nicht anzunehmen ist, oder kriechend, was anzunehmen ist, er wird es nie ganz genau erfahren. Auch nicht, warum seine Nase schwer lädiert ist. Sie scheint gebrochen. Vom Barkeeper, vom Regenschirm, vom Herrentäschchenbesitzer? Keine Ahnung. Leider pulsieren in seinen Ohren die Worte »Lebenslanges Hausverbot« verdächtig deutlich. Sollte er wirklich Hausverbot erteilt bekommen haben? In seinem Jazzclub. Nie mehr Livejazz zum Ausruhen von der Alltagslast. Nie mehr Rückzug in swingenden Wohlklang. Ein gellender Stich durchfährt sein schlappes Herz. Wie ein unerträglicher Saxophonton in höchster Frequenz.
Er tastet nach einem Glas Wasser, aber findet nur ein blutiges Taschentuch neben dem Bett. Er vernimmt ein leises Brummen und blickt schmerzverzerrt in Richtung Wecker, Schlafzimmertüre, Fenster, bis er merkt, es ist das Brummen in seinem Kopf. Es hilft nichts. Locher muss raus. Aus dem Bett, aus dem Haus. Arbeit ruft. Er ist traurig und erschlagen.
Als Locher am Abend seinen Nachhauseweg beendet und mit dem Fahrrad das Gartentor erreicht, ist er schlapp und ausgelutscht. Die letzten Nachwehen seiner Zecherei flattern noch in Form von Übelkeit und leichten Kopfschmerzen durch seinen Körper. Seine Gesichtshaut ist gespannt. Er hat sich, so gut es geht, aus der Affäre gezogen. Er verkroch sich in sein Reich, hielt seinen Arbeitsaufwand gering und parkte seinen Körper immer wieder ausruhend zwischen seinen Buchbinderutensilien und bedruckten Papierstößen. Die wenigen Verrichtungen, die er für sinnvoll erachtete, zerronnen ihm zwischen den zittrigen Fingern. Es war keine Sicherheit, keine Geborgenheit in seinem
Weitere Kostenlose Bücher