Grimpow Das Geheimnis der Weisen
bis er die Beschaffenheit der Welt erkundet hat. Damit trägt er seinen Teil zu der über die Menschheit hinausreichenden Weisheit bei, die ihn schließlich dazu führen wird, das Geheimnis der Weisen zu lüften. Dieser wunderbare Schatz, den niemand je erblickt hat und dessen Pforten vielen verschlossen bleiben, ist nur demjenigen zugänglich, der sich auf die Suche begibt, indem er den richtigen Zeichen und Wegen folgt.«
»Seid Ihr ebenfalls auf der Suche nach diesem Schatz?«
»Ich bin dem Tod bereits zu nahe, um mich auf Abenteuer einzulassen, die der Jugend eigen sind. Du hingegen kannst das Geheimnis der Weisen sehr wohl lüften.«
»Dann glaubt Ihr also, dass der tote Tempelritter in den Bergen ein Auserwählter war?«
»Ohne jeden Zweifel. Und dich hat das Schicksal ebenfalls auserwählt«, erklärte er. »Offenbar sollst du die Mission weiterführen, mit der er beauftragt war.«
Die Worte des Mönchs bestätigten, was Grimpow gedacht hatte, als er in den Bergen die Wärme des Steins in seiner Hand gespürt hatte. Allerdings hatte er keinen blassen Schimmer, wie er diesen Auftrag zu Ende führen sollte. Ihm blieb vorerst nur, sich ins ferne Straßburg auf die Suche nach Aidor Bilbicum zu machen.
»Was kann ich tun, um dieses Geheimnis zu lüften?«, wandte er sich Hilfe suchend an den alten Mann.
»Als Erstes musst du die Botschaft des versiegelten Briefes entziffern. Die Tempelritter haben sich der jüdischen Kabbala und unzähliger Geheimschriften bedient, die nur verstehen konnte, wer im Besitz der Schlüssel dazu war. Nicht einmal ich als ehemaliger Templer bin mir sicher, ob ich dir helfen könnte, selbst wenn ich den versiegelten Brief vor mir hätte.«
Grimpow zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit von Bruder Rinaldos Worten und beschloss, es ihm gleichzutun und ihm alles zu erzählen. Vielleicht konnte der alte Mönch ihm dabei behilflich sein, die wahre Bedeutung jenes rätselhaften Satzes herauszufinden.
»Und wenn ich Euch jetzt sage, dass ich die Zeilen in dem versiegelten Brief auf Anhieb begriffen habe?«
Der alte Mönch zuckte zusammen und starrte Grimpow ungläubig an, in der Erwartung, er werde mit seinen Enthüllungen fortfahren. Doch als der Junge schwieg, fragte er zaghaft und voller Angst vor der Antwort: »Hast du etwa eine Vision gehabt?«
»Ich weiß nicht recht, was es war«, antwortete Grimpow. »Aber ich habe die seltsamen Zeichen auf dem Pergament sofort verstanden, als hätte mir eine innere Stimme wie durch Zauberei ihre Bedeutung enthüllt.«
»Ein Wunder!«, rief Bruder Rinaldo aus und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als schwitzte er trotz der strengen Kälte, die in dem Raum herrschte.
»Die versiegelte Botschaft lautete lediglich: Im Himmel sind das Dunkel und das Licht. Aidor Bilbicum. Straßburg.«
Auf den Zügen des alten Mönchs spiegelte sich Zufriedenheit, als er Grimpows Worte vernahm. »Eine Losung, eine Person und eine Stadt«, murmelte er versonnen.
»Und?«, forschte Grimpow in der Hoffnung, Bruder Rinaldo werde ihm noch mehr verraten als das, was er bereits wusste.
»Alles passt zusammen, alles passt zusammen«, antwortete der Mann nur.
»Was, meint Ihr, hat der Satz zu bedeuten?«, fragte Grimpow.
»Im Himmel sind die Nacht und der Tag, die Dunkelheit und die Helligkeit, die Unwissenheit und die Weisheit«, sagte er.
»An so etwas habe ich auch schon gedacht.«
»Ich glaube, es ist eine Losung. Wenn dieser Aidor Bilbicum die Nachricht erhält, weiß er bestimmt, was er zu tun hat. Allerdings kann ich mir noch nicht erklären, wie du, ein Junge, der nicht einmal lesen und schreiben kann, dieses Rätsel entziffert hast.«
Bei diesen Worten erhob er sich, trat an eines der Regale hinter sich und griff nach einer dicken illuminierten Handschrift. Er legte sie offen auf den Tisch und zog die brennende Öllampe heran, bis die Seiten golden schimmerten.
»Komm her«, sagte er erwartungsvoll.
Grimpow tat wie geheißen und trat neben ihn, ohne die offenen Seiten des dicken Buches aus den Augen zu lassen. Dort waren zwei Textspalten rechts und links von vier gleich großen Kreisen angeordnet, in denen in kräftigen Blau- und Rottönen Szenen mit Engeln und Mönchen und eine mit Blattgold umrandete befestigte Stadt dargestellt waren.
»Kannst du das hier verstehen?«, fragte der alte Mönch, ohne Grimpow aus den Augen zu lassen. Dabei deutete er mit dem Zeigefinger auf den Anfang des Textes, der in wunderschönen lateinischen Lettern
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