Grimpow Das Geheimnis der Weisen
sich bei dem magischen Stein womöglich gar nicht um den lapis philosophorum aus der Handschrift handelte, sondern, wie Durlib gemeint hatte, um ein teuflisches Amulett, das nun bereits zwei Menschen das Leben gekostet hatte.
In der Kirche war alles für die Beisetzung des Abtes vorbereitet. Die Mönchsgesänge klangen in den Schiffen des Gotteshauses wie ein melancholischer Engelschor und durch die bunten Glasfenster fiel das Licht friedlich auf das bleiche Antlitz des Verstorbenen. In der braunen Kutte und dem weißen Zingulum seines Ordens lag er mit gefalteten Händen auf einem hölzernen Katafalk vor dem Altar. Er hatte die Augen geschlossen, und Bruder Arben hatte sich bemüht, mit einer eigens von ihm entwickelten Schminke die Spuren des Entsetzens zu übertünchen, das dem Abt noch immer ins Gesicht geschrieben stand.
Dennoch sah Grimpow, dass das mumifizierte Gesicht verzerrt und der Unterkiefer zu einem unnatürlichen Ausdruck von Spott, Entsetzen oder Kummer verrenkt war. In den Ecken des Aufbahrungsraums brannten vier große Altarkerzen in hohen Bronzekandelabern und ein durchdringender Weihrauchgeruch hing wie eine unsichtbare Duftwolke unter den Kuppeln der Kirche.
Grimpow setzte sich neben die Klosterdiener und lauschte mit aufrichtiger Frömmigkeit der Totenmesse. Er widmete sie insgeheim auch dem Seelenheil seines lieben Freundes Durlib, falls dieser bei seinem Sturz tatsächlich ums Leben gekommen sein sollte. Falls nicht, so fügte ihm ein so lieblicher, wunderschöner Gesang wie der der Mönche zumindest keinen Schaden zu.
»Requiem aeternam dona ei, Domine...«,
sagte Bruder Rinaldo, als die Totenfeier beendet war.
Nach der Messe schulterten vier kräftige Diener den Katafalk und der Trauerzug setzte sich in Richtung Klosterfriedhof in Bewegung. In Zweierreihen folgten die Mönche mit den Kapuzen auf den Köpfen und dicken brennenden Kerzen in den Händen dem Toten, ohne dass die Gesänge und Gebete verstummten. Von der Kirche aus steuerten sie über den Innenhof auf den langen, engen Gewölbegang zu, der bis zum Kreuzgang führte. Dann betraten sie den Kapitelsaal, wo ein Mönch mit dunklen Augenringen und Knubbelnase den Leichnam des Abtes erneut mit Weihwasser besprenkelte und dabei ein kurzes, sanftes Bittgebet aufsagte. Von dort setzten sie ihren Weg schweigend durch einen anderen Teil des Kreuzgangs fort, betraten einen Durchlass, den Grimpow nicht kannte, und gelangten durch einige elende, mit Fackeln erhellte Nebenräume in einen weitläufigen Garten voller Gräber und Kreuze hinter der Apsis der Kirche.
Neben einer ausgehobenen Grube warteten bereits zwei Diener mit Schaufeln. Die Mönche bildeten einen ungleichmäßigen Kreis, während die Träger den Katafalk auf dem Boden abstellten. Dann ließen sie den Leichnam des Abtes in das Grab hinab, bedeckten ihn mit Erde und steckten schließlich ein Kreuz aus Eisen in den kleinen Grabhügel. Schneeflocken schwebten aus dem Himmel hernieder, der sich zu verdüstern begann, als sich von den Bergen her ein starker Schneesturm ankündigte.
Während die Mönche schweigend zu ihrem Tagewerk zurückkehrten, spazierten Bruder Rinaldo und Bruder Arben zwischen den Gräbern und den hohen Zypressen über den Friedhof. Grimpow hielt sich in ihrer Nähe und spitzte die Ohren.
»Ich wusste gar nicht, dass ein Ritter des geächteten Templerordens im Tal zu den Bergen unterwegs war«, sagte Bruder Arben. Er war ein kleiner, schlanker Mann mit heller Haut, die wie sein rasierter Schädel glänzte. Die Tonsur sowie seine kantige Nase verliehen ihm etwas von einem gutmütigen, vergnügten Possenreißer.
»Das wusste keiner von uns. Und ich bin überzeugt, dass nicht einmal der Abt davon Kenntnis hatte.«
»Aber Burumar de Gostelle hat heute Nacht behauptet, der Abt habe den flüchtigen Templer in der Nähe des Klosters gesehen.«
»Hast du dem Inquisitor von Lyon auch nur ein einziges Wort geglaubt?«, fragte Bruder Rinaldo, während er langsam über die dünne Schneedecke auf dem Friedhof schritt.
»Wer sonst hätte den Abt heute Nacht köpfen können?«, fragte Bruder Arben zurück.
»Frag dich lieber, was der Abt wohl gewusst hat, damit man ihn ermorden musste.«
»Wie meinst du das?« Der Kräutermönch blieb verwirrt stehen.
»Burumar de Gostelle, den du selbst Vorjahren als Novizen in Vienne kennengelernt hast, hat sich in der Nacht seiner Ankunft unter vier Augen mit dem Abt in dessen Gemächern unterhalten. Dabei hat er ihm erklärt,
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