Grimpow Das Geheimnis der Weisen
aus welchen wichtigen Gründen er den flüchtigen Templer seit Langem unermüdlich verfolgt.«
»Was sollten das für Gründe sein, wenn nicht die gleichen, die in den letzten Jahren Hunderte von Tempelrittern in den Kerker, auf die Folterbank und den Scheiterhaufen gebracht haben?«, wollte Bruder Arben wissen.
»Er ist hinter ihren Geheimnissen und Schätzen her«, flüsterte der alte Mönch und blickte sich verstohlen um, als befürchtete er, jemand könne ihnen zuhören.
»Die Truhen voll Gold und Silber, die die Templer im Turm ihres Pariser Gebiets verwahrt hatten, hat der französische König unmittelbar nach der Verhaftung aller freres an sich gebracht. Mehrere Tage vor seiner Festnahme soll der Großmeister Jacques de Molay seinen treuesten Rittern befohlen haben, mit unbekanntem Ziel aufzubrechen. Angeblich hat ein Karren die Festung mitten in der Nacht verlassen, aber das ist nur dummes Geschwätz von Bettlern und Kupplerinnen.«
»Ich meinte das Geheimnis aus der Legende«, stellte der alte Mönch richtig.
»Das Geheimnis von König Salomons Tempel?«, fragte der Kräutermönch mit weit aufgerissenen Augen.
»Ganz recht. Burumar de Gostelle hat dem Abt erzählt, Jacques de Molay habe unter Folter gestanden, das Geheimnis sei im Besitz einer Gruppe von Weisen, die nicht einmal er selbst kenne.«
»Dann ist die Legende also wahr!«, rief Bruder Arben aus und wischte eine Schneeflocke fort, die sich wie ein zarter weißer Schmetterling auf seiner Nase niedergelassen hatte.
»So wahr, dass der Inquisitor von Lyon persönlich den flüchtigen Tempelritter bis in diese Berge verfolgt hat«, bekräftigte der alte Mönch.
»Vermuten sie denn, dass er den Schlüssel zu dem Geheimnis besitzt?«
»Soweit ich weiß, hat er einen rätselhaften Brief bei sich getragen.«
Grimpow dachte schon, Bruder Rinaldo würde Bruder Arben alles erzählen, was er selbst ihm bei ihrem Gespräch vor ein paar Tagen anvertraut hatte. Doch der Bibliothekar erwähnte nichts dergleichen.
»Es überrascht mich, dass du noch am Leben bist, wo du über diese Angelegenheit genauso viel weißt wie der Abt«, sagte der Kräutermönch mit einem Seufzen. »Warst du bei seinen Unterredungen mit Burumar de Gostelle anwesend?«, setzte er hinzu.
»Nein, aber frag mich bitte nicht, wie ich davon erfahren habe.«
Beide Mönche verfielen in nachdenkliches Schweigen und gingen weiter, als wollten sie über die letzten Worte nachsinnen oder überlegen, was sie als Nächstes sagen sollten.
Schließlich erklärte Bruder Arben: »Eines verstehe ich allerdings nicht...« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wenn der Dominikaner den Abt geköpft hat, wie konnte er dann so lange nach uns im Kreuzgang auftauchen?«
»Er kann ihn durchaus ermordet haben und dann in aller Eile in den Schlafsaal für edle Gäste zurückgekehrt sein«, antwortete der alte Mönch.
»Als ich das Studierzimmer des Abtes betreten habe, ist noch das Blut aus seinem Hals gesprudelt. Burumar de Gostelle hatte unmöglich genug Zeit, das Verbrechen zu begehen, in den Schlafsaal zu gehen und wieder in den Kreuzgang zurückzukehren, als wäre nichts geschehen.«
Bruder Rinaldo zuckte zusammen, als wäre ihm auf einen Schlag klar geworden, woran seine ganze Theorie krankte. Das Argument des kleinen Kräutermönchs war so schlagkräftig wie vernünftig, und er begriff sogleich, dass er bisher die falschen Schlüsse gezogen hatte. An seinem finsteren Gesichtsausdruck las Grimpow ab, dass der alte Mönch sogar in Erwägung zog, Durlib könnte den Abt umgebracht haben.
Sollte dieser seinen Sprung in die Tiefe unverletzt überlebt haben, konnte er in der Nacht in die Abtei zurückgekehrt, über die Mauer um einen der Gärten gesprungen, bis zu den Gemächern des Abtes vorgedrungen sein und ihn mit dem Dolch des toten Edelmannes geköpft haben. Sozusagen als Rache dafür, dass der Abt ihn bei dem Dominikanermönch denunziert hatte.
Aber die Vorstellung fand er derart an den Haaren herbeigezogen, dass er eine neue Überlegung ins Feld führte.
»Du hast recht mit dem, was du sagst. Vielleicht hat Burumar de Gostelle den Abt nicht eigenhändig umgebracht. Dennoch bin ich sicher, dass er einem seiner Soldaten befohlen hat, ihn zu ermorden und sich irgendwo in der Nähe zu verstecken, bis wieder Ruhe einkehrt, wahrscheinlich im Kapitelsaal, der keine Türen hat. Niemand hätte bemerkt, wenn ein Soldat weniger den Dominikanermönch im Kreuzgang begleitet hätte, kurz nachdem wir
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