Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Gewaltverbrechen jemandem zu geben, der sich nicht wehren kann.«
Grimpow begriff, dass Burumar de Gostelle genau dieselbe Methode angewendet hatte, als er den Mord am Abt von Brinkum dem Tempelritter anhängte. Davon sagte er jedoch nichts zu Bruder Brasco, der vor lauter Redseligkeit nicht mehr zu bremsen war.
»Aufseiner unermüdlichen Flucht hat Keno sich irgendwann auf einem verlassenen Friedhof versteckt. Tagelang hat er sich wie ein lebender Toter in der Gruft einer Adelsfamilie verkrochen, bis der Hunger ihn aus seinem Versteck trieb. Er machte sich immer erst nach Einbruch der Dunkelheit in der Umgebung des Friedhofs auf die Suche nach etwas Essbarem. Wenn er etwas gefunden hatte, was weiß ich, Schnecken, Würmer, Käfer, eine Kröte, eine Ratte, eine Katze oder einen Hund, kehrte er zum Friedhof zurück, um seine Beute wie ein wildes Tier im Dunkeln hinunterzuschlingen.«
In Grimpows Kehle regte sich urplötzlich ein Brechreiz und ihm wurde ganz flau. Dabei überraschte ihn eigentlich nicht, was der Küchenmönch ihm über Keno erzählte, denn auch Durlib und er hatten hin und wieder unappetitliche Tiere hinuntergewürgt, um den Hunger zu besänftigen, der in ihren Eingeweiden rumorte.
»Isst er immer noch solchen Unrat?«, fragte Grimpow, bemüht, seinen Ekel zu überspielen.
»Ich habe ihn ein paarmal dabei ertappt, wie er in der Jauchegrube Ratten gejagt hat. Keno schwört allerdings, er tue es für Bruder Arben, der sie für seine Versuche braucht, um irgendwelche Gebräue und Gifte herzustellen.«
»Dann glaubt Ihr also nicht, dass Keno den Abt ermordet haben könnte?«, fragte der Junge unverblümt. Bislang hatte Bruder Brasco sich vor der Beantwortung der Frage gedrückt, die ihn am meisten interessierte.
»Glaubst du, Keno könnte den Geistlichen ermorden, der ihm das Leben gerettet hat? Dieser arme Schwachkopf ist wie ein unschuldiges Kind und kann keiner Fliege etwas zuleide tun, außer er will sie essen«, antwortete der Küchenmönch und lachte erneut schallend.
Grimpow sah Keno am selben Nachmittag in der Krankenstube wieder, als der Schneesturm mit apokalyptischem Getöse auf die Dächer und gegen die dicken Mauern der Abtei peitschte. Da feststand, dass der Junge so lange bei den Mönchen blieb, bis klar war, was ohne seinen Freund Durlib aus ihm werden sollte, schlug Bruder Rinaldo ihm vor, nachmittags dem Kräutermönch in der Krankenstube zur Hand zu gehen und vormittags in der Bibliothek den Stoff des Trivium und des Quadrivium zu studieren. Wenn er nichts einzuwenden habe, sagte der alte Mönch, werde er selbst sein Meister sein. Grimpow willigte begeistert ein.
Am folgenden Tag lernte er, dass Trivium die Bezeichnung der Gelehrten für die drei Künste der Sprache war, nämlich Grammatik, Rhetorik und Dialektik, und dass es sich beim Quadrivium um die vier mathematischen Künste handelte: Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Auch wenn Bruder Rinaldo ihn alsbald in die Feinheiten der Sprache und der Wissenschaften einweihte, faszinierte ihn doch nichts so sehr wie die Geheimnisse der Alchimie, die er zusammen mit dem Kräutermönch in dessen Laboratorium erforschte.
Die Krankenstube lag im südwestlichen Flügel der Abtei, und zwar nach Süden, um an klaren Wintertagen die warmen Sonnenstrahlen zu nutzen. Bruder Arben pflegte zu sagen, es gebe keine wundersamere Medizin als das Licht und die Wärme dieses königlichen Gestirns. Gleich neben der Krankenstube befand sich der Saal der Novizen, die einen Teil des Nachmittags damit zubrachten, in einer kleinen Kapelle zu beten.
Als sie Grimpow vorbeigehen sahen, starrten einige der jüngsten Mönche ihn neugierig an, und er konnte in ihren Augen eindeutig einen Anflug von Neid ausmachen. Sie wussten, dass der Junge weder verpflichtet war, zu allen Hören am Stundengebet teilzunehmen, noch dem Schweigegelübde unterlag und auch keine körperlichen Arbeiten übernehmen musste, wie sie es jeden Morgen nach der Prim taten. Folglich fragten sie sich, was ein Junge wie Grimpow in der Abtei machte, und wünschten sich ein ebenso freies Leben. Nicht wenige von ihnen waren nämlich mehr auf Wunsch ihrer Eltern als aus wahrer religiöser Berufung ins Kloster gegangen - vor allem, nachdem sie vom Nektar der Liebe und des Rittertums gekostet hatten. Beides lockte schließlich alle jungen Leute, die das Glück hatten, in den Adelsburgen von Ullense zur Welt gekommen zu sein.
Keno lag im Vorraum der Krankenstube unter einem großen
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