Grimpow Das Geheimnis der Weisen
zumindest als Trost.«
»Eure Unwissenheit hindert Euch allerdings nicht daran, die Unsinnigkeit Eurer Argumente zu begreifen«, versetzte Grimpow in dem Wissen, dass eine höhere Macht durch ihn sprach.
Den Augen des alten Mönchs sah man seine Müdigkeit deutlich an. Es waren mindestens zwei Stunden verstrichen, seit sie auf den Hügel gekommen waren, und beide waren sie vor Kälte und von dem Tau, der das Gras und ihre Wollumhänge überzog, schon ganz steif.
Auf dem Rückweg zur Abtei überlegte Grimpow, dass er alles, was er in der Bibliothek gelernt hatte, Bruder Rinaldo und dem unerklärlichen Einfluss des Steins verdankte. Vielleicht war er mit seinen Behauptungen zu weit gegangen. Der Mönch war zweifellos ein Gelehrter, wenngleich er im Wissen vergangener Epochen verhaftet war wie ein an einem ausgetrockneten Fluss gestrandetes Boot. Bei seinen Studien in der Bibliothek hatte der Junge jedoch herausgefunden, dass sich das Wissen der Menschen über Natur und Kosmos im Laufe vieler Jahrhunderte entwickelt hatte, indem es den Übergang von Religion und Aberglauben zu Wissenschaft und Vernunft vollzogen hatte, und dass diese keine anderen Grenzen kannten als die der Vorstellungskraft.
»Ja, vielleicht hast du recht«, fuhr Bruder Rinaldo von Metz fort. »Das Bewusstsein und die Vorstellungskraft der Menschen sind rätselhaft und stecken voller Überraschungen. Ohne sie wäre nichts von dem, was der Mensch über sich selbst und über das Universum herausgefunden hat, möglich gewesen. Wenn man den Menschen ihre Träume und ihre Vorstellungskraft nimmt, hat man das plumpeste, hilfloseste und primitivste Wesen der Erde vor sich.«
In dieser Nacht konnte Grimpow lange nicht einschlafen. Seit Burumar de Gostelle die Abtei verlassen hatte, war er dazu übergegangen, einen Strohsack im Schlafsaal der Novizen zu benutzen. Als er sich hinlegte, schliefen alle bereits, voller Furcht, dass bald wieder die Glocken des Turms läuteten und sie zur Prim riefen. Lautlos schlüpfte er unter die Decke und ließ sich alles durch den Kopf gehen, was seit dem Tag geschehen war, als er das rätselhafte Amulett des Edelmannes gefunden hatte.
Inzwischen wusste er weit mehr als damals, nicht nur über die Natur und das Universum, sondern auch über den geheimnisvollen Stein. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dieser wundersame Stein weit älter war, als er es sich je hätte träumen lassen. Er musste im Lauf der Jahrhunderte unter strengster Geheimhaltung von Generation zu Generation weitergegeben worden sein, bis er in die Hände des Edelmannes gelangt war. Grimpow bezweifelte sogar, ob dieser wirklich ein Tempelritter war. Grimpow war vielmehr davon überzeugt, dass es sich um einen Weisen handelte, der sich nicht um Waffen, Kriege und Religionen scherte. Durchaus plausibel erschien ihm jedoch die Legende vom Tempel Salomons, die Bruder Rinaldo ihm erzählt hatte. Auch lag für ihn auf der Hand, dass der Papst und der König von Frankreich seinen Stein um jeden Preis in ihren Besitz bringen wollten und sogar vor einem Mord nicht zurückschreckten.
In seinen Überlegungen schloss Grimpow aus, dass der Stein der Weisen, den die Alchimisten in ihren Laboratorien herstellen wollten, derselbe war, den er besaß. Allerdings konnten die Legenden und Handschriften über den lapis philosophorum durchaus eine verzerrte Darstellung der wahren Geschichte des Steins der Weisen sein, der sich in seinem Besitz befand und mit dem babylonische, ägyptische und griechische Magier vor mehr als tausend Jahren viel zu tun gehabt hatten. Von diesen anfänglichen Vermutungen musste er nur noch nachprüfen, ob sein Stein ein so minderwertiges Metall wie Blei in Gold verwandeln konnte.
Das fand er eines Abends im Laboratorium der Krankenstube heraus, während Bruder Arben der Vesper beiwohnte.
An diesem Tag hatte der kleine Kräutermönch ihm eines der vielen alchimistischen Verfahren gezeigt. Dazu hatte er eine alte Handschrift mit dem Titel Physika kai Mystika , die man einem griechischen Weisen namens Demokrit zuschrieb, offen auf den Tisch gelegt und war ihren Anweisungen gefolgt.
»Wir stellen uns vor, dass wir im alten Griechenland sind und das Laboratorium eines der ersten bekannten Alchimisten betreten haben«, sagte Bruder Arben.
Er bereitete den Ofen und den Glaskolben vor, in dem er die Umwandlung durchführen wollte. Dann holte er vier Glasbehältnisse aus einem Regal und entnahm jedem eine kleine Menge seines Inhalts: Blei, Zinn,
Weitere Kostenlose Bücher