Grimpow Das Geheimnis der Weisen
die mir tausend Wonnen und Abenteuer verheißen. Ich habe beschlossen, mich ohne weiteren Aufschub in ihre zarten Göttinnenarme zu werfen, bevor meine Seele bei den Gesängen und Gebeten in der Abtei verwelkt«, erklärte der Novize, und seine Augen sprühten Funken wie die Glut eines Lagerfeuers.
Dies war nicht das erste Mal, dass Pelin de Langfort Grimpow von den Wonnen der Liebe, den süßen Küssen und den sanften Liebkosungen eines Burgfräuleins erzählte. Die Worte des Novizen riefen dem Jungen das Bild der Sirenen in Erinnerung, ihre nackten, runden Brüste und ihre betörenden Stimmen, die seine Sinne in Aufruhr versetzten. Er geriet in Versuchung, in dieser Nacht mit Pelin de Langfort aus der Abtei Brinkum zu fliehen und sich so bald wie möglich auf die Suche nach Abenteuern und Liebschaften zu begeben, deren Ruf in seinen Ohren so laut widerhallte wie ein Donner in einer Gewitternacht.
Davon hatte Grimpow schließlich immer geträumt: Schildknappe eines fahrenden Ritters zu werden und von Turnier zu Turnier zu ziehen wie die Helden in den Romanzen, die die Spielleute auf den Plätzen und Märkten vortrugen. Das hatte er auch mit Durlib vorgehabt, als sie nach der Entdeckung des toten Edelmannes in den Bergen beschlossen, sich auf die Suche nach dem finis mundi aufzumachen. Doch nun, da er die Gelegenheit hatte, der Abtei den Rücken zu kehren und mit Pelin ein neues Leben voller Abenteuer zu beginnen, meldete sich seine innere Stimme zu Wort. Sie sagte, ihm sei ein anderes Schicksal bestimmt und er solle nicht voreilig eine derart gewagte, bedeutsame Entscheidung treffen.
»Wohin wollt Ihr überhaupt?«, fragte Grimpow schließlich.
»Ich mache mich auf nach Südwesten zur Festung von Langfort und verabschiede mich von meiner Mutter, bevor ich nach Spanien weiterziehe.«
»Euer Vater wird Euch mit einer Abordnung Soldaten in die Abtei zurückschicken, sobald Ihr Euch in seiner Festung blicken lasst.«
»Ich versichere dir, dass ich nur als Leiche in diesen Friedhof zurückkehren werde.«
»Hier ist es doch gar nicht so übel«, befand Grimpow aufrichtig, denn er kannte die Härten des fahrenden Lebens zur Genüge.
»Das sagst du, weil du frei bist wie ein Vogel, auch wenn du den Tag gern über unnützen Handschriften verbringst, die nichts zum Ruhm eines fahrenden Ritters und schon gar nichts zu den Aufgaben eines guten Knappen beitragen. Wenn du mitkommst, wirst du es gewiss nicht bereuen«, erklärte der Novize Pelin de Langfort, und sein Hochmut schlug in eine flehentliche Bitte um.
»Lass mich überlegen. Ich bin mir nicht sicher, ob das Schicksal für uns denselben Weg ausersehen hat, und auch nicht, ob uns dieselben Abenteuer und Heldentaten erwarten«, antwortete Grimpow, den zusehends nagende Zweifel bedrängten.
»Du hast Zeit bis nach der Komplet, dich zu entscheiden. Treffe ich dich nicht im Stall an, sobald die letzte Fackel im Kreuzgang erlischt, gehe ich davon aus, dass du darauf verzichtest, mein Knappe zu werden. Dann verlasse ich die Abtei auf Nimmerwiedersehen, ohne zurückzublicken.«
In dieser Nacht schlief niemand auf dem Strohsack des Novizen Pelin de Langfort, und als die Turmglocken vor Tagesanbruch zur Prim riefen, ahnte Grimpow, welcher Aufruhr in der Kirche entstehen würde, wenn die Mönche bemerkten, dass sein Platz im Chorgestühl leer blieb. Deshalb lief er zu Bruder Rinaldo, um ihm Bescheid zu sagen, bevor sich unter den schreckhaften Klosterbrüdern das Gerücht eines neuen Verbrechens verbreitete, und zwar so schnell, wie sich das Feuer über ein Stoppelfeld hermacht.
Aber als Grimpow in der Küche anlangte, um Bruder Brasco zu bitten, den Abt und Bruder Rinaldo aus der Kirche zu holen, weil er in einer dringenden Angelegenheit unter vier Augen mit ihnen sprechen müsse, war es bereits zu spät. Einige Novizen hatten bemerkt, dass Pelin die Nacht nicht im Schlafsaal verbracht hatte, und dachten entsetzt, das Gespenst des Tempelritters habe ihn ermordet.
»Bestimmt ist er geköpft worden, genau wie der alte Abt!«, rief Bruder Brasco aus, als er den Jungen in die Küche kommen sah. Er gab ihm keine Gelegenheit, ihn über den Vorfall zu unterrichten.
»Wie bitte?«, fragte Grimpow.
»Hast du es noch nicht gehört? Pelin de Langfort ist verschwunden. Niemand hat ihn seit dem Ende der Komplet gestern Abend gesehen und an der Matutin hat er auch nicht teilgenommen. Jetzt suchen alle in der Abtei nach ihm, sie befürchten nämlich, er sei ermordet worden«,
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