Grimpow Das Geheimnis der Weisen
Norden bezogen Anfang April in der Abtei Quartier und mit ihnen trafen auch wieder Neuigkeiten ein. Sie berichteten, der Großmeister des Templerordens, Jacques de Molay, sei zusammen mit einigen anderen Tempelrittern bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Er habe den Papst und den französischen König verflucht und ihnen geschworen, sie würden noch vor Jahresfrist sterben.
Grimpow widmete diesen Nachrichten nicht allzu viel Aufmerksamkeit und auch die Klosterbrüder sprachen nicht mit ihm darüber.
An einem Tag, an dem der Himmel mit dichten schwarzen Wolken überzogen war und immer wieder von den leuchtenden Klauen der Blitze zerrissen wurde, beobachtete Grimpow vom Bibliotheksfenster aus die Ankunft einer Gruppe prächtig gekleideter Adliger mit ihren Pagen und Dienern. Von dem Trubel angezogen, stieg er in den Kreuzgang hinab und steuerte von dort auf die Krankenstube zu, um Keno und den anderen Dienern zur Hand zu gehen. Diese kümmerten sich unter Bruder Brascos fortgesetzten, barschen Anweisungen bereits um die Unterbringung der Neuankömmlinge.
Der Küchenmönch gestikulierte ohne Unterlass und schwang seinen Bauch hin und her, während er sich den aus den Kutschen steigenden Damen und Burgfräulein gegenüber in Verbeugungen und Begrüßungen erging. Grimpow wollte ihn gerade fragen, wie er sich in diesem Hin und Her von Truhen und Kästen nützlich machen konnte, als er ein Mädchen aus einem mit Blumengirlanden geschmückten Wagen steigen sah, dessen Augen so hell und klar waren wie zwei Eiskristalle.
Die unbekannte Schöne bemerkte, dass er sie verblüfft anstarrte, und warf ihm ein Lächeln zu. Grimpow errötete, und seine Gedanken stoben ungestüm auf wie ein Schwarm Vögel, die aus den schönsten Träumen aufgescheucht werden. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er ein Vorgefühl der Liebe, ein heftiges Brodeln seines Blutes von Kopf bis Fuß, das ihn erbeben ließ wie eine dem Sturmwind ausgesetzte Binse. In diesem Augenblick begriff Grimpow alles, was Pelin ihm über die Liebe und die seelische Verwirrung erzählt hatte, die diese mit sich brachte, und wünschte sich, diese magische Begegnung mit dem Mädchen mit den kristallklaren Augen möge bis in alle Ewigkeit andauern.
Doch Bruder Brasco bemerkte den Blickwechsel der beiden jungen Leute und befahl Grimpow, in die Bibliothek zurückzukehren und seine Studien fortzusetzen, bevor ihm der Teufel über den Weg lief und ihn mit unreinen, sündigen Empfindungen in Versuchung führte. Der Junge gehorchte nur widerwillig, starrte den ganzen Nachmittag dümmlich ins Leere und gab sich süßen Träumereien hin. Immer wieder drückte er sich in der Nähe des Schlafsaals für edle Gäste herum, ohne dass es ihm gelang, die junge Göttin noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Es war, als wäre sie vor seinen Augen aus dem Nichts aufgetaucht, um sich anschließend in Luft aufzulösen, genau wie der Leichnam des unbekannten Edelmannes.
Obwohl Grimpow das Mädchen nicht wiedersah, tat er in den folgenden Nächten kein Auge zu, sondern erquickte seine Gedanken an dem holden Gesicht der rätselhaften Schönen, deren Stimme er im Traum zu hören glaubte wie den berauschenden Gesang der schönsten Sirene, die je ein Mensch gesehen hatte.
Viele Pilger trafen in langen Karawanen auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela in Brinkum ein, indem sie die Alpen von Nordosten nach Süden überquerten und der Strecke folgten, die die Gemarkung Ullense mit dem Weg verband, der bis ins weit entfernte spanische Roncesvalles führte. Dort schlossen sie sich anderen Pilgern aus Deutschland oder Paris an, um Buße zu tun und sich von ihren Sünden reinzuwaschen, indem sie sich vor dem Grab des Apostels im noch ferneren Compostela niederwarfen. Aber auch Pilger aus den umliegenden Gemarkungen trafen in der Abtei ein, angezogen von dem wundertätigen Ruf der Gebeine und des Schädels des heiligen Tristan, die in einem weißen Marmorsarkophag in der Krypta der Klosterkirche ruhten.
Der heilige Tristan war als erster Mönch ins Tal von Brinkum gelangt, als die Wälder ausschließlich von Wölfen und Bären bewohnt waren. Er hatte eine kleine Einsiedelei aus Holz errichtet, um dort in Abgeschiedenheit und Einsamkeit zu leben. Den Legenden zufolge lautete sein wahrer Name Tristan de Guillory und er war zur Zeit des ersten Kreuzzugs mit Peter dem Einsiedler und seinem Heer von Hungerleidern, Abenteurern und Ausbrechern nach Jerusalem gepilgert. Statt
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