Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Trug ich vielleicht eine Krankheit in mir, die diese Halluzinationen auslöste?
Doch ich mochte nicht nachdenken. Ich wollte einfach nur laufen.
Ich überquerte den Kanal, auf dessen Wasser kleine Boote schwankten. Das Wimmern eines Akkordeons drang unter der Brücke hervor.
Ich passierte die Wache und begab mich in das Gassengewirr des Marktstädtchens. Dort schwirrten noch mehr Menschen als üblich herum. Die Leute lehnten an den Geländern von Veranden und strömten aus Eingängen. Manche spielten Karten auf Kisten, andere schliefen gegeneinandergelehnt. Ein Paar tanzte vor einer Schenke träge zu einer Musik, die nur sie hören konnten.
Beim Erreichen der Stadtmauern befahl ich mir, nach Hause zurückzukehren. Ich hätte fast gelacht, denn der Kleine Palast war nicht wirklich mein Zuhause.
Menschen wie du und ich können kein gewöhnliches Leben führen.
Mein Leben würde keine Liebe, sondern nur Ergebenheit, keine Freundschaft, sondern nur Treue kennen. Ich würde jede Entscheidung abwägen, jede Tat vorab durchdenken, niemandem trauen. Ich wäre dem wahren Leben entfremdet.
Natürlich hätte ich umkehren müssen, aber ich ging weiter und stand Augenblicke später draußen vor der Stadtmauer. Ich hatte Os Alta verlassen, und das im Handumdrehen.
Die Zeltstadt war weiter angeschwollen. Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Menschen kampierten vor den Mauern. Die Pilger waren leicht zu erkennen und ich stellte überrascht fest, dass auch ihre Zahl gewachsen war. Sie hatten sich vor einem großen weißen Zelt versammelt, den Blick in Erwartung des zeitigen Sonnenaufgangs nach Osten gerichtet.
Dann erhob sich heiseres Geflüster, ein Geräusch wie das von flatternden Vogelschwingen, das sich, als die Sonne hinter dem Horizont auftauchte und den Himmel blassblau erhellte, zu einem tiefen Summen steigerte. Erst da konnte ich die Worte verstehen.
Sankta. Sankta Alina. Sankta. Sankta Alina.
Die Pilger beobachteten den Anbruch der Dämmerung und ich konnte den Blick nicht von ihnen abwenden, weil sie so hoffnungsfroh und erwartungsvoll wirkten. Sie schienen verzückt zu sein, und als die ersten Sonnenstrahlen auf sie fielen, begannen einige zu weinen.
Das Summen wurde lauter und vervielfachte sich, schwoll an und schwoll ab, verwandelte sich in ein Heulen, bei dem sich die Haare auf meinen Armen sträubten. Es glich einem Fluss, der über die Ufer trat, einem Bienenschwarm, der von einem Baum geschüttelt worden war.
Sankta. Sankta Alina. Tochter Rawkas.
Ich schloss die Augen, als ich die Sonne auf der Haut fühlte, und betete darum, etwas zu fühlen, irgendetwas.
Sankta Alina. Tochter Keramzins.
Die Pilger reckten die Hände zum Himmel, ihre Stimmen steigerten sich zu einem rauschhaften Gebrüll und Geschrei. Alte Gesichter, junge Gesichter, Kranke und Schwache, Gesunde und Kräftige. Jeder ein Fremder.
Ich schaute mich um. Sie sind nicht von Hoffnung erfüllt , dachte ich, sondern von Wahnsinn und Gier, Verlangen und Verzweiflung . Ich hatte das Gefühl, aus einer Trance zu erwachen. Warum hatte ich mich hierher begeben? Unter diesen Menschen war ich noch einsamer als hinter den Palastmauern. Sie konnten mir nichts geben und ich hatte ihnen nichts zu bieten.
Meine Füße schmerzten und mir wurde schlagartig bewusst, wie müde ich war. Ich kehrte um und drängelte mich durch die Menge zu den Stadttoren. In diesem Moment gipfelte der Gesang in einem dröhnenden Chor.
Sankta , riefen sie. Sol Korolewa. Rebe Dwa Stolba.
Tochter von Zweimühlen. Das hatte ich schon einmal gehört, auf der Reise nach Os Alta. Es handelte sich um ein nach uralten Ruinen benanntes Tal an der Südgrenze, in dem es einige kleine, vergessene Siedlungen gab. Maljen war auch dort geboren worden, aber wir hatten nie die Gelegenheit gehabt, dorthin zurückzukehren. Wozu auch? Wenn wir Verwandte hatten, waren sie vermutlich schon vor langer Zeit verstorben oder verbrannt.
Sankta Alina.
Ich dachte an meine paar Kindheitserinnerungen aus der Zeit vor Keramzin, an den Teller mit Rote-Bete-Scheiben, die meine Finger rot gefärbt hatten. Ich erinnerte mich an die staubige Straße, von jemandes Schultern aus gesehen, an hin- und herschwingende Ochsenschwänze und an unsere Schatten auf dem Boden, an eine Hand, die auf die Ruinen der Mühlen zeigte, die von Wind, Regen und dem Lauf der Zeit zu zwei Felsnadeln abgeschliffen waren. Das war alles. Alle anderen Erinnerungen galten Keramzin. Und sie galten Maljen.
Sankta Alina.
Ich
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