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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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drängelte mich durch die dichte Menge, schlang meinen Schal fester um die Ohren, um den Lärm nicht mehr hören zu müssen. Beinahe hätte ich eine alte Pilgerin umgerannt, die mir in die Quere kam. Ich stützte sie, und als sie sich an mich klammerte, verlor ich fast das Gleichgewicht.
    »Verzeihung, Babja«, sagte ich förmlich. Niemand sollte sagen, dass Ana Kuja uns keine Manieren beigebracht hatte. Ich richtete die Frau auf. »Alles in Ordnung?«
    Doch sie sah mir nicht ins Gesicht, sondern starrte auf meinen Hals. Ich riss eine Hand hoch, aber es war zu spät. Der Schal war abgerutscht.
    »Sankta«, stöhnte die Alte. »Sankta!« Sie fiel auf die Knie, ergriff meine Hand, drückte sie auf eine runzelige Wange. »Sankta Alina!«
    Plötzlich griffen von allen Seiten Hände nach meinen Ärmeln und meinem Mantelsaum.
    »Bitte«, sagte ich und versuchte mich zu entwinden.
    Sankta Alina . Geflüstert, gehaucht, geheult, geschrien. Als Gebet klang mein eigener Name fremd in meinen Ohren, glich einer Anrufung in fremden Zungen, die die Dunkelheit vertreiben sollte.
    Immer mehr Menschen umlagerten mich, kamen näher und näher und rempelten einander an, um mich zu erreichen und meine Haut und meine Haare zu berühren. Ich hörte, wie etwas riss, und mir wurde bewusst, dass es mein Mantel war.
    Sankta. Sankta Alina.
    Ich wurde immer weiter von der Masse drängelnder und schubsender Menschen eingezwängt, die alle so nahe wie möglich an mich herankommen wollten. Ich wurde von den Füßen gefegt, schrie auf, als mir Haare ausgerissen wurden. Diese Leute würden mich zerfetzen.
    Lass sie nur , schoss es mir durch den Kopf. So rasch konnte alles vorbei sein: keine Ängste mehr, keine Verantwortung, keine Albträume von geborstenen Skiffs oder Kindern, die von der Schattenflur verschlungen wurden, keine Visionen. Ich wäre Halsreif und Schuppenarmband los und auch die erdrückende Last der Hoffnung dieser Leute. Lass sie nur .
    Ich schloss die Augen. Es war vorbei. Sollten sie mir eine Seite in den Istorii Sankt’ja widmen, mein Haupt mit einem goldenen Heiligenschein schmücken. Alina mit dem gebrochenen Herzen, Alina, die Kummervolle, Alina, die Wahnsinnige, Tochter von Dwa Stolba, eines Morgens vor den Stadtmauern in Stücke gerissen. Sollten sie meine Gebeine am Straßenrand verkaufen.
    Irgendjemand schrie. Ich hörte einen wütenden Ruf. Wurde von großen Pranken gepackt und hochgehoben.
    Als ich die Augen öffnete, erblickte ich Toljas Gesicht. Er hielt mich in den Armen.
    Tamar stand neben ihm und zog die Handflächen in einem langsamen Bogen durch die Luft.
    »Zurück«, warnte sie die Menschenmenge. Manche Pilger blinzelten schläfrig, andere setzten sich. Sie verlangsamte ihren Herzschlag, versuchte sie zu beruhigen, aber es waren zu viele. Ein Mann sprang Tamar an. Blitzschnell zog sie ihre Äxte und der Mann brüllte, als eine rote Wunde auf seinem Arm klaffte.
    »Noch ein Schritt und du bist einarmig«, zischte sie.
    Raserei stand in die Gesichter der Pilger geschrieben.
    »Lasst mich helfen«, rief ich.
    Tolja überhörte mich und bahnte sich einen Weg durch die Menge; Tamar umkreiste ihn und schwang dabei die Äxte, verbreiterte die Schneise. Die Pilger klagten und stöhnten und reckten die Arme nach mir.
    »Jetzt«, sagte Tolja. Dann lauter: »Los!«
    Er setzte zu einem Spurt an. Mein Kopf schlug gegen seine Brust, als wir zur Stadtmauer rannten, dicht gefolgt von Tamar. Die Wachen hatten den Aufruhr bemerkt und waren dabei, die Tore zu schließen.
    Tolja drängte weiter, warf jeden um, der sich ihm in den Weg stellte, und sprang dann zwischen den schon fast geschlossenen eisernen Torflügeln hindurch. Tamar zwängte sich auch durch und im nächsten Moment fiel das Tor zu. Ich hörte, wie sich die Menschen auf der anderen Seite dagegenwarfen, wie sie am Eisen kratzten, verlangend schrien. Ich hörte immer noch meinen Namen. Sankta Alina.
    »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, brüllte Tolja, als er mich absetzte.
    »Später«, sagte Tamar knapp.
    Die Wachen starrten mich an. »Schafft sie weg!«, schrie einer wütend. »Wir können von Glück reden, wenn hier kein Volksaufstand ausbricht.«
    Die Zwillinge gingen zu ihren wartenden Pferden. Tamar riss eine Decke von einem Marktstand und warf sie mir über die Schultern. Ich schlang sie um meinen Hals, damit man den Reif nicht mehr sah. Sie sprang in den Sattel und Tolja setzte mich ohne viel Federlesens hinter sie.
    Wir ritten in angespanntem

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