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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leigh Bardugo
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Zerwürfnis rückgängig machen zu können? Trotzdem verspürte ich eine leise Panik. Ich musste sein Gesicht sehen, um zu wissen, dass alles wieder gut war. Ich nahm es in beide Hände und hob sein Kinn, und als sich unsere Blicke trafen, zuckte ich voller Entsetzen zurück.
    Ich sah in Maljens Augen – seine vertrauten blauen Augen, die ich besser kannte als meine eigenen. Nur dass sie nicht blau waren. Stattdessen schimmerten sie im flackernden Schein der erlöschenden Kerze in einem quarzartigen Grau.
    Dann lächelte er und sein Lächeln war ungewöhnlich eisig und gerissen.
    »Ich habe dich auch vermisst, Alina.« Diese Stimme. Kühl und ebenmäßig wie Glas.
    Maljens Gesichtszüge trübten sich ein und verflogen, formten sich nebelhaft neu, bleich und schön, mitsamt dem schwarzen Haarschopf und dem makellos geschwungenen Kinn.
    Der Dunkle legte mir zärtlich eine Hand auf die Wange. »Bald«, flüsterte er.
    Ich schrie. Er löste sich in Schatten auf und verschwand.
    Ich kroch aus dem Bett, schlang meine Arme um mich. Meine Haut kribbelte, mein ganzer Körper bebte, teils aus Furcht, teils wegen der Erinnerung an mein Verlangen. Ich rechnete damit, dass Tamar oder Tolja jeden Moment zur Tür hereinstürmten, und legte mir eine Lüge zurecht.
    »Albtraum«, würde ich ruhig und überzeugend sagen, obwohl mein Herz hämmerte, obwohl ich spürte, dass noch ein Schrei in meiner Kehle aufstieg.
    Aber alles blieb still. Niemand kam. Ich stand zitternd im nahezu dunklen Gemach.
    Ich holte flach und bebend Luft. Dann noch einmal.
    Sobald mich meine Beine wieder trugen, zog ich mein Gewand an und schaute ins Gemeinschaftszimmer. Es war leer.
    Ich schloss die Tür und drückte den Rücken dagegen, starrte auf die zerwühlte Bettdecke. Ich konnte jetzt nicht wieder einschlafen. Vielleicht würde ich nie mehr schlafen. Ich sah zur Uhr auf dem Kaminsims. Während der Beljanotsch-Tage ging die Sonne früh auf, aber es würde noch Stunden dauern, bis der Palast erwachte.
    Ich wühlte im Stapel der Kleider, die ich von der Wolkwolnij mitgenommen hatte, und fischte einen unauffälligen braunen Mantel und einen langen Schal heraus. Für beides war es zu warm, aber das war mir egal. Ich zog den Mantel über mein Nachthemd, wand den Schal um den Hals und schlüpfte in meine Schuhe.
    Als ich durch das Gemeinschaftszimmer schlich, sah ich, dass die Tür zum Quartier der Wachen geschlossen war. Wenn Maljen oder die Zwillinge dort waren, schliefen sie fest. Aber vielleicht lag Maljen auch irgendwo unter den Kuppeln des Kleinen Palastes in Zojas Armen. Mein Herz verkrampfte sich schmerzhaft. Ich verließ das Zimmer durch die linke Tür und eilte durch dunkle Flure in die stille Nacht.

Ziellos lief ich durch das Zwielicht, vorbei an stillen, nebelverhangenen Rasenflächen und den von innen beschlagenen Gewächshäusern. Das einzige Geräusch war das leise Knirschen meiner Schuhe auf dem Kiesweg. Gerade waren im Großen Palast Brot und Gemüse angeliefert worden und ich folgte der Wagenkarawane durch die Tore, danach auf den kopfsteingepflasterten Straßen durch die Oberstadt. Ein paar Zecher waren noch unterwegs und genossen das Dämmerlicht. Ich sah zwei Leute in festlicher Kleidung, die sich auf einer Parkbank küssten. Mehrere Mädchen wateten lachend durch einen Springbrunnen, die Röcke bis über die Knie gerafft. Eine junge Frau mit Papierkrone tätschelte die Schulter eines Mannes mit Mohnblumenkrone, der auf der Bordsteinkante saß, das Gesicht in den Händen vergraben. Niemand nahm mich wahr, niemand tuschelte bei meinem Anblick. In meinem gewöhnlichen Mantel schien ich unsichtbar zu sein.
    Ich wusste, dass ich eine Dummheit beging. Vielleicht wurde ich von den Spionen des Asketen oder des Dunklen verfolgt. Man konnte mich jeden Moment entführen, aber das war mir egal. Ich musste weitergehen, um frische Luft in die Lunge zu bekommen und die Erinnerungen an die Berührungen des Dunklen loszuwerden, die immer noch auf meiner Haut brannten.
    Als ich an meine Schulternarbe fasste, waren die Wülste sogar durch den Mantelstoff zu spüren. Ich hatte den Dunklen an Bord des Walfängers gefragt, warum er seinen Ungeheuern erlaubt hatte, mich zu beißen. Ich war davon ausgegangen, dass er es aus Gehässigkeit getan hatte oder damit ich sein unauslöschliches Mal trug, aber vielleicht hatte er tiefere Gründe dafür gehabt.
    Und meine Vision? War er tatsächlich bei mir gewesen oder hatte meine Fantasie mir einen Streich gespielt?

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