Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Alina sein. Dieses Mädchen gibt es nicht mehr.«
»Aber ich will sie zurück«, stieß er hervor.
»Ich kann nicht mehr anders!«, schrie ich ohne Rücksicht auf mögliche Zuhörer. »Du kannst mir den Halsreif und die Schuppen der Meeresgeißel nehmen, aber nicht meine Macht.«
»Und wenn ich das könnte? Würdest du sie loslassen? Würdest du darauf verzichten?«
»Niemals.«
Das war die Wahrheit, und sie trennte uns. Wir standen im Dunkel des Waldes und ich spürte wieder den Stich im Herzen. Ich wusste, was mir bleiben würde, nachdem dieser Schmerz verflogen war: Einsamkeit, Leere, ein tiefer, unüberwindbarer Graben, der bedrohliche Rand jenes Abgrunds, den ich in den Augen des Dunklen erblickt hatte.
»Gehen wir«, sagte Maljen schließlich.
»Wohin?«
»Zum Kleinen Palast. Ich lasse dich ganz sicher nicht allein in diesem Wald zurück.«
Wir gingen schweigend den Hügel hinauf und betraten den Palast durch die Tür zu den Gemächern des Dunklen. Zum Glück hielt sich niemand im Gemeinschaftszimmer auf.
Vor der Tür zu meinem Gemach drehte ich mich noch einmal zu Maljen um.
»Ich sehe ihn«, sagte ich. »Ich sehe den Dunklen. In der Bibliothek. In der Kapelle. Damals auf der Schattenflur, als die Kolibri beinahe abgestürzt wäre. Auch an dem Abend in meinem Zimmer, als du mich küssen wolltest, habe ich ihn gesehen.«
Er starrte mich an.
»Ich weiß nicht, ob es Halluzinationen oder Heimsuchungen sind. Ich habe es dir verschwiegen, weil ich befürchtete, du könntest mich für verrückt halten. Und weil ich glaube, dass du dich sowieso schon vor mir fürchtest.«
Maljen öffnete den Mund, schloss ihn wieder, unternahm noch einen Versuch. Selbst jetzt hoffte ich noch, dass er sich gegen meine letzten Worte verwahren würde. Aber er kehrte mir den Rücken zu. Er ging zum Quartier der Wachen, blieb kurz stehen, um sich eine Flasche Kwass vom Tisch zu schnappen, und schloss dann leise die Tür hinter sich.
Ich zog mich um und legte mich ins Bett, aber die Nacht war viel zu warm. Ich strampelte die Decke ab, bis sie zerknüllt vor meinen Füßen lag. Auf dem Rücken liegend, schaute ich zu der Obsidiankuppel mit den Sternbilder-Intarsien auf. Ich hätte gern gegen Maljens Tür gehämmert und mich bei ihm dafür entschuldigt, alles verdorben zu haben, wollte ihm sagen, dass wir damals Hand in Hand in Os Alta hätten einziehen sollen. Aber hätte das etwas geändert?
Menschen wie du und ich können kein gewöhnliches Leben führen.
Kein gewöhnliches Leben. Nur Kampf und Furcht und rätselhafte, knisternde Stöße, die uns erbeben ließen. Ich hatte mich so viele Jahre danach gesehnt, ein Mädchen zu sein, wie Maljen es sich wünschte. Vielleicht war das gar nicht mehr möglich.
Niemand gleicht uns, Alina. Und niemand wird uns jemals gleichen.
Als ich zu weinen begann, waren meine Tränen heiß und zornig. Ich drückte mein Gesicht in das Kissen, damit mich niemand hörte. Ich weinte, und nachdem meine Tränen versiegt waren, fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
»ALINA.«
Maljen weckte mich mit einem zärtlichen Kuss auf die Lippen, auf eine Schläfe, auf meine Augenlider und Brauen. Als er sich bückte, um meinen Hals zu küssen, glänzte sein braunes Haar im flackernden Licht der auf dem Nachttisch stehenden Kerze.
Ich zögerte kurz, denn ich war verwirrt und noch nicht ganz wach, aber dann schlang ich meine Arme um ihn und zog ihn zu mir heran. Es war mir egal, dass wir uns gestritten hatten, dass er Zoja geküsst hatte, dass er mich hatte stehenlassen, dass alles so verworren war. Für mich zählte nur, dass er sich eines Besseren besonnen hatte. Er war wieder da und ich war nicht mehr allein.
»Ich habe dich vermisst, Maljen«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »So sehr vermisst.«
Ich ließ meine Arme über seinen Rücken gleiten, schloss sie um seinen Nacken. Er küsste mich wieder und ich gab mich seufzend dem Druck seiner Lippen hin. Ich spürte sein Gewicht, als er über mich hinwegglitt, strich über die harten Muskeln seiner Arme. Wenn Maljen bei mir blieb, wenn er mich trotz allem noch liebte, gab es Hoffnung. Mein Herz hämmerte heftig und eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus. Bis auf unsere Atemzüge und das Geräusch unserer Körper, die sich aneinanderrieben, war alles still. Er küsste meinen Hals, mein Schlüsselbein, ließ die Lippen über meine Haut gleiten. Ich erbebte und drückte ihn noch fester.
Hatte ich mir nicht genau dies gewünscht? Eine Möglichkeit, unser
Weitere Kostenlose Bücher