Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
ich wollte.«
»Dann hättest du den Schnitt also nicht gesetzt?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Er klang wie üblich heiter und sachlich zugleich. Ob er nun drohte, mich in kleine Stücke zu zerschneiden, oder ob er sein Abendessen bestellte – seine Tonlage war immer dieselbe.
Ich konnte im Zwielicht gerade eben das feine Gespinst seiner Narben erkennen. Ich hätte schweigen, ihn zwingen sollen, zuerst etwas zu sagen, aber meine Neugier war zu stark.
»Wie hast du überlebt?«
Er strich über seinen markanten Unterkiefer. »Mein Fleisch war den Volkra offenbar nicht wohlschmeckend genug«, sagte er fast gelangweilt. »Hast du gemerkt, dass sie nie übereinander herfallen?«
Ich erschauderte. Sie waren genauso seine Geschöpfe wie das Ungeheuer, das seine Zähne in meine Schulter geschlagen hatte. Die Bisswunde pochte immer noch. »Gleich und Gleich gesellt sich gern.«
»So etwas möchte ich nicht noch einmal erleben. Ich will weder von der Gnade der Volkra abhängig sein noch von deiner.«
Ich ging durch den Raum und blieb vor dem Tisch stehen. »Warum willst du mir dann einen zweiten Kräftemehrer beschaffen?«, fragte ich verzweifelt und suchte nach einem einleuchtenden Argument. »Falls du es vergessen hast: Ich wollte dich töten.«
»Du hast versagt.«
»Warum willst du meine Macht noch weiter mehren? So könnte ich eine zweite Gelegenheit bekommen.«
Er zuckte wieder mit den Schultern. »Ohne Morozows Kräftemehrer ist Rawka verloren. Du musst sie tragen, das ist dein Schicksal, so wie mein Schicksal darin besteht, zu herrschen. Anders kann es nicht sein.«
»Wie angenehm für dich.«
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast dich jedenfalls nicht gerade als angenehm erwiesen, Alina.«
»Kräftemehrer können nicht miteinander verbunden werden. Darin sind sich alle Bücher einig …«
»Nicht alle .«
Ich hätte am liebsten frustriert aufgeschrien. »Baghra hat mich gewarnt. Sie hat dich als arrogant bezeichnet und gesagt, der Ehrgeiz mache dich blind.«
»Ach, wirklich?« Seine Stimme klang eisig. »Und? Was für Abscheulichkeiten hat sie dir sonst noch eingeflüstert?«
»Sie hat gesagt, dass sie dich liebt«, erwiderte ich zornig. »Dass sie glaubt, du könntest erlöst werden.«
Er wandte den Blick ab, aber ich sah doch, wie er das Gesicht schmerzhaft verzog. Was hatte er ihr angetan? Und was hatte ihn das gekostet?
»Erlösung«, murmelte er. »Errettung. Buße. Die sonderbaren Vorstellungen meiner Mutter. Vielleicht hätte ich ihr besser zuhören sollen.« Er griff in die Schreibtischschublade und holte ein schmales rotes Buch heraus. Als er es hochhielt, glitzerte die Goldprägung auf dem Einband: Istorii Sankt’ja . »Kennst du dieses Buch?«
Ich runzelte die Stirn. Das Leben der Heiligen . Ja, ich konnte mich dunkel daran erinnern. Der Asket hatte mir im Kleinen Palast eine Ausgabe geschenkt. Das war Monate her, und ich hatte das Buch damals in einem Fach meiner Schminkkommode versenkt und keines weiteren Blickes gewürdigt.
»Ein Kinderbuch«, sagte ich.
»Hast du es je gelesen?«
»Nein«, gestand ich und wünschte mir plötzlich, es getan zu haben. Der Dunkle betrachtete mich viel zu eindringlich. Was konnte an einer alten Sammlung religiöser Bilder so wichtig sein?
»Aberglaube«, sagte er und senkte den Blick auf den Einband. »Gehirnwäsche für Bauern. Das dachte ich jedenfalls. Morozow war ein seltsamer Mann. Er war dir nicht unähnlich, denn die Gewöhnlichen und Schwachen zogen ihn an.«
»Maljen ist nicht schwach.«
»Er ist begabt, das gebe ich zu, aber kein Grischa. Er wird dir niemals ebenbürtig sein.«
»Er ist mir mehr als ebenbürtig«, fauchte ich.
Der Dunkle schüttelte den Kopf. Hätte ich es nicht besser gewusst, dann hätte ich geglaubt, er habe Mitleid. »Du bildest dir ein, durch ihn eine Art von Familie gefunden zu haben. Du bildest dir ein, eine Zukunft gefunden zu haben. Aber du irrst dich. Du wirst stattdessen immer mächtiger werden und er wird altern. Er wird sein kurzes Otkazat’ja -Leben dahinbringen und am Ende wirst du ihm beim Sterben zuschauen.«
»Sei still.«
Er lächelte. »Nur zu! Stampfe mit dem Fuß auf und wehre dich gegen dein wahres Wesen, während dein Land vor die Hunde geht.«
»Deinetwegen!«
»Nein. Weil ich mein Vertrauen in eine junge Frau gesetzt habe, die den Gedanken an ihre eigene Macht nicht erträgt.« Er stand auf und ging um den Tisch auf mich zu. Ich trat trotz
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