Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
meiner Wut einen Schritt zurück und knallte gegen den hinter mir stehenden Stuhl.
»Ich weiß, was du im Beisein des Fährtenlesers empfindest«, sagte er.
»Das wage ich zu bezweifeln.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich meine nicht diese lächerliche Sehnsucht. Die wirst du irgendwann überwinden. Nein, ich meine die Wahrheit tief in deinem Herzen. Ich meine die Einsamkeit. Ich meine das wachsende Wissen um dein Anderssein.« Er beugte sich näher zu mir hin. »Und den damit einhergehenden Schmerz.«
Ich versuchte zu verbergen, dass mich etwas durchzuckte, als hätte er Recht. »Keine Ahnung, was du meinst«, erwiderte ich, wusste aber, dass diese Worte eine Lüge waren.
»Es wird nie vergehen, Alina. Sondern immer schlimmer werden, egal, hinter wie vielen Schals du dich verbirgst oder wie viele Lügen du erzählst, egal, wie schnell du davonrennst oder wie weit.«
Ich wollte mich abwenden, doch er packte mich am Kinn und zwang mich, ihn anzuschauen. Er war mir so nahe, dass ich seinen Atem spürte. »Du und ich, wir sind einzigartig, Alina«, flüsterte er. »Menschen wie uns beide wird es niemals wieder geben.«
Ich riss mich los, wobei ich den Stuhl umwarf und fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ich hämmerte mit meinen gefesselten Händen gegen die Tür und schrie nach Iwan. Der Dunkle sah mir dabei zu. Aber Iwan erschien erst auf seinen Befehl hin.
Ich nahm undeutlich Iwans Hand auf meinem Rücken wahr, den Gestank in den Gängen, einen Matrosen, der uns Platz machte, danach die Stille meiner winzigen Kabine, die hinter mir ins Schloss fallende Tür, die Koje, den kratzigen Stoff des Bettzeugs, in dem ich mein Gesicht vergrub, während ich zitternd versuchte, die Worte des Dunklen aus meinen Gedanken zu verbannen. Maljens Tod. Das lange Leben, das vor mir lag. Der nie versiegende Schmerz des Andersseins. Jede dieser Ängste glich einer spitzen Klaue, die sich tief in mein Herz bohrte.
Ich wusste, dass er ein geschickter Lügner war. Er vermochte jedes Gefühl vorzutäuschen, alle menschlichen Schwächen auszunutzen. Trotzdem konnte ich weder leugnen, was ich in Nowij Sem empfunden, noch die Augen vor der Wahrheit dessen verschließen, was der Dunkle mir aufgezeigt hatte: meine Traurigkeit und meine Sehnsucht, gespiegelt in seinen grauen, starren Augen.
Die Stimmung auf dem Walfänger war umgeschlagen. Die Besatzung war unruhig und argwöhnisch, die Erinnerung an die Schlappe, die ihr Kapitän hatte einstecken müssen, war noch frisch. Die Grischa tuschelten untereinander. Da wir die Gewässer der Knochenrinne so langsam durchkreuzten, lagen ihre Nerven blank.
Der Dunkle ließ mich täglich an Deck bringen und ich musste neben ihm am Bug ausharren. Maljen hielt sich unter strenger Bewachung am Heck auf. Ich hörte, wie er Sturmhond Anweisungen zurief, sah, wie er auf Riefen in den Eisschollen zeigte, die wir passierten.
Ich betrachtete die groben Furchen, die stets dicht unter der Wasseroberfläche lagen. Vielleicht waren es Klauenspuren, vielleicht auch nicht. Aber ich hatte in Tsibeja erlebt, wozu Maljen im Stande war. Während unserer Suche nach dem Hirsch hatte er mich wiederholt auf zerbrochene Zweige oder heruntergetretenes Gras aufmerksam gemacht, Spuren, die ich immer erst bemerkt hatte, nachdem ich von ihm darauf hingewiesen worden war. Die Besatzung wirkte skeptisch. Die Grischa machten keinen Hehl aus ihrer Verachtung.
Wenn am Ende des Tages die Dämmerung einsetzte, führte der Dunkle mich über das Deck bis zur Luke und ich stieg vor Maljens Augen nach unten. Wir durften kein Wort wechseln. Ich versuchte seinen Blick aufzufangen und ihm wortlos mitzuteilen, dass alles in Ordnung sei, spürte aber, wie Zorn und Verzweiflung in ihm gärten, und konnte nichts tun, um ihn zu beruhigen.
Einmal kam ich vor der Luke ins Stolpern und der Dunkle fing mich auf. Er hätte mich gleich wieder loslassen können, aber er zog mich an sich und streichelte mir über den Rücken, bevor ich mich losreißen konnte.
Maljen wollte sich auf ihn stürzen, und wären die Grischa-Wächter nicht gewesen, dann wäre er dem Dunklen ganz sicher an die Kehle gegangen.
»Noch drei Tage, Fährtensucher.«
»Lass sie in Ruhe«, knurrte Maljen.
»Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Sie ist noch unversehrt. Oder geht es dir gar nicht darum?«
Maljen sah aus, als müsste er gleich zerspringen. Er war totenblass, sein Mund ein schmaler Strich und die Muskeln seiner Unterarme verkrampften
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