Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Siegel des Zaren.«
Ich schnaubte. »Du hast es bestimmt dem wahren Prinzen Nikolaj geklaut.«
»Ich habe unter Rajewski gedient. Er kennt mich.«
»Vielleicht hast du das Gesicht des Prinzen ja auch geklaut.«
Er seufzte. »Versteht ihr nicht, dass ich meine wahre Identität außerhalb Rawkas nicht enthüllen konnte, weil das zu riskant gewesen wäre? Nur meine vertrauenswürdigsten Mitstreiter kennen die Wahrheit – Tolja, Tamar und Priwjet sowie einige Ätheralki. Alle anderen … nun, ja, sie sind gute Männer, aber auch Söldner und Piraten.«
»Du hast also deine eigene Besatzung getäuscht?«
»Auf See ist Nikolaj Lantsow als Geisel wertvoller denn als Kapitän. Wie soll ich ein Schiff befehligen, wenn ich immer damit rechnen muss, dass mich jemand mitten in der Nacht niederschlägt und im Anschluss ein Lösegeld von meinem Papa fordert?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist doch alles Unsinn. Prinz Nikolaj lernt angeblich irgendwo Schiffbau und …«
»Ich war Lehrling bei einem Schiffbauer der Fjerdan. Und bei einem Büchsenmacher der Semeni. Und bei einem Ingenieur in der Han-Provinz Bolh. Ich habe mich auch eine Weile an der Lyrik versucht. Die Ergebnisse waren … unglücklich. Dieser Tage bedarf Sturmhond meiner größten Aufmerksamkeit.«
Maljen lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Zeltstange. »Du hast also eines Tages beschlossen, dein Luxusleben aufzugeben und den Piraten zu spielen?«
»Freibeuter«, sagte er. »Und ich habe nicht gespielt. Als Sturmhond konnte ich mehr für Rawka tun als während meines müßigen Lebens bei Hofe.«
»Und wo steckst du nach Meinung des Zaren und der Zarin gerade?«, fragte ich.
»An der Universität von Ketterdam«, antwortete er. »Ist sehr schön dort. Ausgesprochen edel. Während wir hier plaudern, nimmt ein Hafenangestellter, den ich dafür reichlich entlohne, an meiner Stelle an den Philosophie-Vorlesungen teil. Er erbringt annehmbare Leistungen, nennt sich Nikolaj und hebt oft und gern einen. So schöpft niemand Verdacht.«
Hörte diese Verstellung denn nie auf? »Warum?«
»Ich habe es ernsthaft versucht. Aber ich konnte nie lange stillsitzen. Das hat meine Kinderfrau viele Nerven gekostet. Tja, die Kinderfrauen. Wenn ich mich recht erinnere, gab es ein ganzes Heer von ihnen.«
Ich hätte vorhin noch heftiger zuschlagen sollen. »Aber warum diese ganze Scharade?«
»Ich bin Zweiter in der Thronfolge. Ich war drauf und dran, auszureißen, um meinen Militärdienst ableisten zu können. Meine Eltern würden es bestimmt nicht gutheißen, dass ich Semeni-Piraten ausschalte und die Blockade der Fjerdan durchbreche. Sturmhond übrigens schätzen sie durchaus.«
»Schön«, sagte Maljen. »Du bist also ein Prinz. Ein Freibeuter. Eine Quasselstrippe. Aber was willst du von uns?«
Sturmhond schüttelte sich, als er noch einen Schluck Kwass trank. »Eure Hilfe«, sagte er. »Die Lage hat sich verändert. Die Schattenflur dehnt sich aus. Die Erste Armee steht kurz vor einer Revolte. Der Dunkle hatte mit seinem Putsch zwar keinen Erfolg, aber er hat die Zweite Armee tief erschüttert und Rawka befindet sich am Rande des Zusammenbruchs.«
Ich spürte, wie mein Herz sank. »Lass mich raten: Du bist der Einzige, der dies verhindern kann.«
Sturmhond beugte sich vor. »Seid ihr während eurer Zeit bei Hofe jemals meinem Bruder Wassili begegnet? Seine Pferde und das nächste Glas Whisky sind ihm wichtiger als sein Volk. Mein Vater hatte von Anfang an nur wenig Interesse daran, Rawka zu regieren, und nun scheint es ganz verflogen zu sein. Unser Land zerfällt. Irgendjemand muss es einen, bevor es zu spät ist.«
»Wassili ist der Thronerbe«, merkte ich an.
»Ich denke, dass man ihn zum Thronverzicht bewegen könnte.«
»Darum hast du uns hierher verfrachtet?«, fragte ich angewidert. »Weil du Zar werden willst?«
»Ich habe euch hierher verfrachtet, weil der Asket dich zu einer leibhaftigen Heiligen verklärt hat. Die Menschen lieben dich. Ich habe dich hierher verfrachtet, weil deine Macht der Schlüssel für das Fortbestehen Rawkas ist.«
Ich ließ meine Hände auf den Tisch klatschen. »Du hast mich hierher verfrachtet, um deinen großen Auftritt mit der Sonnenkriegerin zu haben und deinem Bruder den Thron zu rauben!«
Sturmhond lehnte sich zurück. »Ich werde mich ganz sicher nicht für meinen Ehrgeiz entschuldigen. Ich bin nun einmal der geeignetste Mann für diese Aufgabe.«
»Oh, natürlich.«
»Bitte begleitet mich nach Os
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