Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
wusste, dass mehr dahintersteckte. Ich hatte die Anziehungskraft der Macht des Dunklen selbst erlebt. Strömten die Pilger nicht aus genau diesem Grund zu einer falschen Heiligen? Diente die Erste Armee nicht deshalb immer noch einem unfähigen Zaren? Manchmal war es leichter, blind zu folgen.
Nachdem Fedjor zu Ende erzählt hatte, bat ich darum, dass man ihm etwas zu essen brachte, und riet ihm, sich auf den morgigen Aufbruch nach Os Alta vorzubereiten.
»Ich weiß allerdings nicht, wie wir dort empfangen werden«, sagte ich warnend.
»Wir werden bereit sein, moj Soverenij «, sagte er und verneigte sich.
Beim Klang dieses Titels zuckte ich zusammen, denn nach meinem Gefühl stand er immer noch dem Dunklen zu.
»Fedjor …«, begann ich, als er zur Tür gehen wollte. Dann zögerte ich. Ich konnte nicht fassen, was ich da sagen wollte, aber Nikolajs Einfluss schien doch allmählich Wirkung zu zeigen – ob zum Guten oder Schlechten. »Mir ist natürlich bewusst, dass ihr eine lange Reise hinter euch habt, aber sorgt dafür, dass ihr ordentlich ausseht. Es ist wichtig, dass wir morgen einen guten Eindruck machen.«
Er zuckte mit keiner Wimper – verneigte sich nur noch einmal und erwiderte: » Da, Soverenij «, bevor er in die Nacht verschwand.
Großartig , dachte ich. Ein Befehl erteilt, Tausende werden noch folgen.
Am nächsten Morgen streifte ich meine prächtige Kefta über und ging mit Maljen und den Zwillingen die Vordertreppe des Anwesens hinunter. Alle drei trugen weiterhin Kleider aus grobem, bäuerlichem Stoff, doch auf jeder Brust blitzte die goldene Strahlensonne. Vielleicht gefiel das Nikolaj nicht, aber ich wollte die Kluft überbrücken, die sich zwischen den Grischa und dem Volk von Rawka auftat.
Man hatte uns zwar darauf hingewiesen, dass Os Alta voller Flüchtlinge und Pilger war, aber Nikolaj bestand dieses Mal nicht darauf, dass ich in der Kutsche fuhr, weil er wollte, dass man mich in die Stadt einreiten sah. Was jedoch nicht hieß, dass er vorgehabt hätte, auf einen großen Auftritt zu verzichten. Meine Leibgarde und ich saßen auf herrlichen Schimmeln, auf beiden Seiten flankiert von Männern seines Regiments, die jeweils den Doppeladler Rawkas und eine Flagge mit der Strahlensonne trugen.
»Wie immer sehr subtil«, sagte ich seufzend.
»Bescheidenheit wird überschätzt«, erwiderte er und schwang sich auf einen Apfelschimmel. »Statten wir dem bizarren Ort meiner Kindheit einen Besuch ab?«
Der Morgen war warm und die Banner unserer Prozession hingen schlaff in der stillen Luft, während wir auf dem gewundenen Vy zur Hauptstadt ritten. Während der heißen Monate zog sich die Zarenfamilie meist in den Sommerpalast im Seengebiet zurück, aber da Os Alta mit seinem doppelten Mauerring leichter zu verteidigen war, wollte man in diesem Jahr lieber dort bleiben.
Unterwegs schweiften meine Gedanken ab. Ich hatte nicht gut geschlafen und durch die morgendliche Wärme und den steten Rhythmus des Reitens sank mir das Kinn trotz meiner inneren Anspannung auf die Brust. Als wir auf den letzten Hügel vor den Ausläufern der Stadt trabten, wurde ich jedoch schlagartig wach.
Die Türme Os Altas, der Traumstadt, ragten dicht vor uns in den wolkenlosen Himmel. Aber zwischen der Hauptstadt und dem Hügel hatten an die tausend Soldaten der Ersten Armee in tadelloser Formation Aufstellung bezogen – Infanterie, Kavallerie und Offiziere. Ein ganzes Meer von Säbelklingen und Gewehrläufen blitzte in der Sonne.
Ein Reiter, der einen mit zahlreichen Orden geschmückten Offiziersrock trug, löste sich aus der Formation. Er saß auf einem der gewaltigsten Rösser, die ich je gesehen hatte; es hätte gut und gern zwei Toljas tragen können.
Der Reiter preschte vor den Reihen der Soldaten auf und ab. Nikolaj beobachtete ihn seufzend. »Aha«, sagte er. »Scheint so, als wollte mein Bruder uns begrüßen.«
Wir ritten langsam den Hügel hinab und kamen schließlich vor den Rängen der aufmarschierten Soldaten zum Halten. Unsere aus zerlumpten Pilgern und verwahrlosten Grischa bestehende Prozession wirkte trotz der Schimmel plötzlich nicht mehr so glanzvoll. Nikolaj trieb sein Pferd an und die beiden Brüder ritten aufeinander zu.
Ich hatte Wassili Lantsow in Os Alta einige Male gesehen. Er sah nicht übel aus, hatte aber das fliehende Kinn seines Vaters geerbt und seine Augenlider waren so schwer, dass er stets gelangweilt oder angetrunken wirkte. Nun schien er sich jedoch ermannt und aus der
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