Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
zitternden Hände in den Falten der Kefta. »Warum?«
»Wir sahen das Licht und …«
»Ist nur etwas düster hier«, sagte ich. »All das Schwarz.«
Alle drei starrten mich lange an. Dann sah Tamar sich noch einmal um. »Ja, ziemlich bedrückend. Du solltest den Raum neu einrichten lassen.«
»Steht ganz oben auf meiner Liste.«
Die Zwillinge sahen sich ein weiteres Mal um und verließen das Gemach, wobei Tolja etwas vom Abendessen murmelte. Maljen verharrte in der Tür.
»Du zitterst«, sagte er.
Ich wusste, dass er jetzt keine Erklärung von mir fordern würde. Eigentlich sollte ich ihm ungefragt alles erzählen. Doch was hätte ich sagen sollen? Dass ich Halluzinationen hatte? Dass ich verrückt geworden war? Dass wir nie wieder in Sicherheit wären, egal, wohin wir fliehen würden? Dass ich ebenso angeknackst war wie die goldene Kuppel, nur dass durch den Riss etwas viel Schlimmeres als Tageslicht in mich eindrang?
Ich schwieg.
Maljen schüttelte kurz den Kopf und ging.
Ich stand allein mitten in den leeren Gemächern des Dunklen.
Ich muss ihn zurückrufen , dachte ich verzweifelt. Ich muss mit ihm reden. Ihm alles erzählen.
Maljen hielt sich nur wenige Schritte entfernt von mir auf, direkt hinter der Wand. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn zu rufen. Dann wäre er gekommen und ich hätte ihm alles gebeichtet – was auf der Schattenflur geschehen war, was ich Sergej beinahe angetan hätte, was ich eben, Augenblicke zuvor, gesehen hatte. Ich öffnete den Mund, aber mir gingen immer wieder dieselben Worte durch den Kopf.
Ich werde nicht schreien. Ich werde nicht schreien. Ich werde nicht schreien.
Am nächsten Morgen weckten mich zornige Stimmen. Zuerst wusste ich nicht, wo ich mich befand. Die Dunkelheit war bis auf den schmalen Lichtstreifen unter der Tür fast vollkommen.
Dann holte mich die Wirklichkeit ein. Ich richtete mich auf und tastete nach der auf einem Wandvorsprung stehenden Lampe. Ich drehte die Flamme hoch und ließ meinen Blick über das schwarze Tuch des Himmelbetts und die Schnitzereien an den Ebenholzwänden gleiten. Ich würde tatsächlich einige Veränderungen vornehmen müssen, denn das Erwachen in diesem Raum war zu bedrückend. Wie sonderbar, dass ich mich wirklich in den Gemächern des Dunklen befand und die Nacht in seinem Bett verbracht hatte. Dass ich ihn genau hier erblickt hatte.
Genug davon . Ich warf die Decke ab und schwang meine Beine aus dem Bett. Ich wusste nicht, ob die Visionen meiner Fantasie entsprangen oder einen Manipulationsversuch des Dunklen darstellten, aber es musste eine Erklärung dafür geben. Vielleicht war ich durch den Biss des Nitschewo’ja infiziert worden. Wenn das stimmte, musste ich jemanden suchen, der mich heilte. Aber vielleicht würden die Nachwirkungen mit der Zeit von selbst zurückgehen.
Der Streit vor meiner Tür wurde lauter. Ich meinte Sergejs Stimme und Toljas zorniges Brummen zu hören. Rasch warf ich den bestickten Morgenmantel über, der am Fußende des Bettes für mich bereitgelegt worden war, verbarg das Schuppenarmband unter dem Ärmel und eilte in das Gemeinschaftszimmer.
Ich wäre fast gegen die Zwillinge gerannt. Tolja und Tamar standen Schulter an Schulter da und hinderten eine Truppe wütender Grischa am Betreten meines Schlafgemachs. Tolja hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Tamar schüttelte den Kopf, während Sergej und Fedjor lautstark ihr Anliegen vortrugen. Ich war beunruhigt, als ich nicht nur Zoja, sondern auch den dunkelhäutigen Inferni erblickte, der sich gestern gegen mich ausgesprochen hatte. Alle redeten durcheinander.
»Was ist hier los?«, fragte ich.
Sobald Sergej mich erblickte, kam er mit einem Zettel in der Hand auf mich zu. Tamar wollte sich ihm in den Weg stellen, aber ich bremste sie mit einem Wink.
»Schon gut«, sagte ich. »Worum geht es?« Ich ahnte bereits, wo der Hase im Pfeffer lag. Auf dem Papier, das Sergej vor meinem Gesicht schwenkte, erkannte ich meine Handschrift und das aufgebrochene Siegel mit der Strahlensonne wieder, das Nikolaj mir beschafft hatte.
»Das ist unannehmbar«, fauchte Sergej.
Ich hatte gestern eine Botschaft verteilen lassen, die zu einem Kriegsrat aufrief. Jeder Grischa-Orden sollte zwei Stellvertreter schicken. Dass man sich sowohl für Fedjor als auch für Sergej entschieden hatte, fand ich gut, aber als die älteren Grischa ihre Einwände vorbrachten, wurde ich langsam wütend.
»Er hat Recht«, sagte Fedjor. »Die Korporalki stehen im
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