Grischa: Goldene Flammen
unerschwinglich gewesen wären.
Nachdem ich mich angekleidet hatte, beäugte ich die Kefta. Sollte ich sie wirklich anziehen? Würde ich tatsächlich eine Grischa werden? Ich bezweifelte es.
Es ist nur eine Robe, schalt ich mich selbst.
Ich holte tief Luft, nahm die Kefta vom Wandschirm und zog sie an. Sie war leichter als gedacht und passte ebenfalls wie angegossen. Ich schloss die kleinen, unter einer Leiste verborgenen Knöpfe und betrachtete mich im Spiegel über der Waschschüssel. Die Kefta war von einem tiefdunklen mitternächtlichen Blau, hatte weite Ãrmel und fiel mir fast bis auf die FüÃe. Sie war geschnitten wie ein Mantel, aber so elegant wie ein Kleid. Dann bemerkte ich die Stickereien an den Ãrmelaufschlägen, deren Farbe für die Aufgabe der Grischa innerhalb des jeweiligen Ordens stand: Hellblau für die Fluter, Rot für die Inferni, Silber für die Stürmer. Meine Ãrmelaufschläge waren mit Gold bestickt. Während ich mit den Fingern über die schimmernden Fäden fuhr, überkam mich ein Anflug von Furcht, und als es an der Tür klopfte, zuckte ich zusammen.
»Sehr hübsch«, sagte Genja, als ich ihr die Tür öffnete. »Aber Schwarz hätte dir noch besser gestanden.«
Ich tat, was sich gehörte, und streckte ihr die Zunge heraus. Genja eilte durch den Flur und ich versuchte, auf der Treppe mit ihr Schritt zu halten. Dann führte sie mich in den Kuppelsaal, den Ausgangspunkt der gestrigen Prozession zum GroÃen Palast. Heute war er relativ leer, brummte aber von Gesprächen. Grischa scharten sich um Samoware oder wärmten sich, auf Diwanen liegend, an kunstvoll gekachelten Ãfen. Andere frühstückten an den vier langen Tischen, die mitten im Saal zum Quadrat aufgestellt worden waren. Bei unserem Eintreten wurde es kurz stiller, aber die Leute taten wenigstens so, als würden sie weiterreden, während wir an ihnen vorbeigingen.
Zwei junge Frauen im Gewand der Beschwörer eilten auf uns zu. Ich erkannte Marie wieder, die sich vor dem Beginn der Prozession mit Sergej gestritten hatte.
»Alina!«, sagte sie. »Man hat uns gestern gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin Marie, und das ist Nadja.« Sie wies auf ein neben ihr stehendes, rotwangiges Mädchen, das beim Lächeln die Zähne zeigte. Marie hakte sich bei mir unter und kehrte Genja bewusst den Rücken zu. »Setz dich zu uns!«
Ich runzelte die Stirn und wollte etwas einwenden, aber Genja schüttelte den Kopf und sagte: »Geh nur. Du gehörst zu den Ãtheralki. Ich hole dich nach dem Frühstück zu einem Rundgang ab.«
»Wir können den Rundgang mit ihr â¦Â«, begann Marie.
Aber Genja schnitt ihr das Wort ab. »Zu einem Rundgang, wie vom Dunklen angeordnet .«
Marie lief rot an. »Wer bist du? Ihre Zofe?«
»So ähnlich«, antwortete Genja und ging davon, um sich eine Tasse Tee einzuschenken.
»Sie trägt die Nase zu hoch«, sagte Nadja etwas verschnupft.
»Jeden Tag ein bisschen höher«, pflichtete Marie bei. Dann drehte sie sich strahlend zu mir um. »Du bist sicher schon am Verhungern!«
Sie führte mich zu einem der langen Tische. Zwei Diener traten herbei und zogen die Stühle für uns zurück.
»Wir sitzen hier. Zur Rechten des Dunklen«, sagte Marie stolz und zeigte auf den Tisch, an dem mehrere Grischa in blauer Kefta saÃen. »Die Korporalki sitzen dort«, fügte sie mit einem verächtlichen Blick auf den gegenüberliegenden Tisch hinzu, an dem der schlecht gelaunt wirkende Sergej gemeinsam mit anderen rot gewandeten Grischa sein Frühstück zu sich nahm.
Wir saÃen zur Rechten des Dunklen, wohl wahr, aber die Korporalki saÃen genauso nah zu seiner Linken. Diesen Gedanken sprach ich allerdings nicht laut aus.
Der Tisch des Dunklen war leer. An seinem üblichen Platz stand ein Ebenholzstuhl mit hoher Lehne. Als ich fragte, ob der Dunkle mit uns frühstücke, schüttelte Nadja heftig den Kopf.
»Oh nein! Er isst nur selten mit uns«, sagte sie.
Ich zog die Augenbrauen hoch. Warum wollten sie alle so nahe wie möglich am Dunklen sitzen, wenn er so gut wie nie erschien?
Platten mit Roggenbrot und saurem Hering wurden aufgetragen. Mir wäre fast übel geworden, denn ich verabscheute Hering. Glücklicherweise gab es reichlich Brot und zu meinem Erstaunen erblickte ich entkernte Pflaumen, die bestimmt aus
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