Grischa: Goldene Flammen
verlassen und sich auf die Rückreise nach Tsibeja begeben. Dort würde er wieder zu den anderen Fährtenlesern stoÃen, die Morozows Herde verfolgten. Ich konnte die Entfernung, die sich zwischen uns auftat, fast mit Händen greifen. Ich hatte das Gefühl, ihm noch ferner zu sein als während der vielen letzten, einsamen Monate.
Ich rieb mit dem Daumen über die Narbe auf meiner Handfläche. »Komm zurück«, flüsterte ich und wurde wieder von Schluchzern geschüttelt. »Komm zurück.« Aber das war unmöglich, denn ich hatte ihm geradezu befohlen, er solle verschwinden. Ich wusste, dass ich ihn vielleicht nie mehr wiedersehen würde, und dieser Gedanke tat mir unendlich weh.
Schwer zu sagen, wie lange ich im Dunkeln saÃ. SchlieÃlich hörte ich, wie leise geklopft wurde. Ich richtete mich auf und kämpfte gegen mein Schluchzen an. Was, wenn der Dunkle vor der Tür stand? Es wäre unerträglich, ihm meine Tränen erklären zu müssen, aber ich konnte nicht einfach hier sitzen bleiben. Also kam ich mühsam auf die Beine und öffnete die Tür.
Eine knochige Hand packte mein Handgelenk, umschloss es mit eisernem Griff.
»Baghra?« Ich starrte die in der Tür stehende Frau an.
»Komm«, sagte sie und zog an meinem Arm, wobei sie einen Blick über ihre Schulter warf.
»Lass mich, Baghra.« Ich wollte mich losreiÃen, aber sie war überraschend kräftig.
»Mitkommen, Mädchen«, zischte sie. »Sofort!«
Vielleicht lag es an ihrem drängenden Blick, vielleicht auch an der Furcht, die ich zu meinem Erstaunen darin wahrnahm, oder vielleicht war ich einfach daran gewöhnt, ihr zu gehorchen â auf jeden Fall folgte ich ihr.
Sie schloss die Tür hinter uns, ohne mich loszulassen.
»Was soll das? Wohin gehen wir?«
»Sei still.«
Sie wandte sich nicht nach rechts zum groÃen Treppenhaus, sondern zog mich in der entgegengesetzten Richtung durch den Flur. Sie drückte auf ein Wandpaneel, wodurch sich eine Geheimtür öffnete, und gab mir einen sanften Schubs. Da ich nicht den Willen aufbrachte, mich zu wehren, stolperte ich eine schmale Wendeltreppe hinunter. Sobald wir unten waren, glitt Baghra an mir vorbei und führte mich durch einen schmalen Flur mit Steinboden und schlichter Holzvertäfelung. Verglichen mit den übrigen Räumlichkeiten des Kleinen Palastes wirkte er sehr kahl. Wir befanden uns vermutlich in den Quartieren der Dienerschaft.
Baghra ergriff wieder mein Handgelenk und zog mich in eine dunkle, leere Kammer. Dort entzündete sie eine Kerze, verschloss die Tür und legte den Riegel vor. Dann ging sie quer durch den Raum und stellte sich auf Zehenspitzen, um den Vorhang vor dem winzigen Kellerfenster zuzuziehen. Es gab nur ein schmales Bett, einen einfachen Stuhl und eine Waschschüssel.
»Hier«, sagte sie und schob mir Kleider hin. »Zieh dich um.«
»Ich bin zu müde für den Unterricht, Baghra.«
»Es geht nicht um Unterricht. Du musst hier weg. Noch heute.«   Â
Ich blinzelte. »Was redest du da?«
»Ich will dich davor bewahren, dein restliches Leben als Sklavin zu verbringen. Und nun zieh dich um.«
»Was wird hier gespielt, Baghra? Warum sind wir hier?«
»Wir haben wenig Zeit. Der Dunkle ist Morozows Herde dicht auf der Spur. Er wird den Hirsch bald haben.«
»Ich weië, sagte ich und dachte an Maljen. Mein Herz tat weh, aber ich konnte nicht anders, als etwas selbstgefällig zu fragen: »Du glaubst doch gar nicht an Morozows Hirsch.«
»Das habe ich dem Dunklen weisgemacht. Ich hatte gehofft, dann würde er die Suche nach dem Hirsch aufgeben. Aber wenn er das Tier erst mal hat, kann ihn nichts mehr aufhalten.«
Ich warf die Hände hoch. »Aufhalten? Was hat er denn vor?«
»Er will die Schattenflur als Waffe benutzen.«
»Verstehe«, sagte ich. »Und wahrscheinlich will er sich dort auch eine Sommerresidenz erbauen lassen.«
Baghra packte meinen Arm. »Das ist kein Scherz!«
Sie klang ungewöhnlich verzweifelt und der Griff, mit dem sie meinen Arm hielt, war fast schmerzhaft. Was war nur mit ihr los?
»Vielleicht sollten wir zur Krankenstation gehen, Baghra â¦Â«
»Ich bin weder krank noch verrückt«, fauchte sie. »Du musst mich anhören.«
»Dann rede kein wirres Zeug«, erwiderte ich. »Wie kann er denn die
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