Grisham, John
worden, nie vom Spion. Kyle sagte nicht, warum
er Wright sehen wollte, was aber auch nicht notwendig war. Man ging davon aus,
dass er endlich etwas Wichtiges in der Hand hatte und es weitergeben wollte. Es
war kurz vor achtzehn Uhr am Freitag, und Kyle arbeitete in der Hauptbibliothek
im achtunddreißigsten Stock. Wright nannte per E-Mail das Hotel 60 Thompson in
SoHo als Treffpunkt. Kyle war einverstanden. Er war immer einverstanden, weil
er weder ablehnen noch einen anderen Treffpunkt vorschlagen durfte. Was aber
keine Rolle spielte; er hatte nämlich nicht die Absicht, hinzugehen, jedenfalls
nicht an diesem Freitagabend. Joey war noch nicht in der Stadt.
Vier Stunden später - Kyle versteckte sich zwischen den Akten von Placid
Mortgage und blätterte gedankenlos durch Zwangsvollstreckungsakten, wofür er
inzwischen vierhundert Dollar pro Stunde in Rechnung stellen durfte - schickte
er Bennie Wright eine E-Mail mit der traurigen Nachricht, dass er die Kanzlei
in absehbarer Zeit nicht verlassen könne. Obwohl er es hasste, sich für Placid
Mortgage durch Aktenberge zu wühlen, und es kaum glauben konnte, dass er so
spät an einem Freitagabend noch in der Kanzlei war, musste er schmunzeln, als
er sich vorstellte, wie Wright ungeduldig in dem Hotelzimmer auf seinen Spion
wartete, der nicht kommen würde, weil er im Büro aufgehalten wurde. Der
Auftraggeber konnte sich ja wohl kaum darüber beschweren, dass sein Spion so
hart arbeitete.
Kyle schlug ein Treffen für den späten Samstagnachmittag vor, und Bennie Wright
schluckte den Köder. Innerhalb weniger Minuten ging eine E-Mail mit seinen
Anweisungen ein: 19.00 Uhr, Samstag, Zimmer 32, Wooster Hotel in SoHo. Bis
jetzt hatte Wright für jedes Treffen ein anderes Hotel benutzt.
Über eine Festnetzleitung rief Kyle die Nummer von Joeys neuem Mobiltelefon an
und gab die Details weiter. Joeys Flugzeug aus Pittsburgh würde um 14.30 Uhr am
Samstagnachmittag in LaGuardia ankommen. Dann würde er ein Taxi zum Mercer
Hotel nehmen, ein Zimmer beziehen und die Zeit totschlagen, während sein Freund
an einem Samstagnachmittag Anwalt spielte. Anschließend würde Joey durch die
Stadt laufen, verschiedene Buchhandlungen besuchen, in Taxis in der Gegend
herumfahren und - wenn er absolut sicher war, dass ihm niemand folgte - ins
Wooster Hotel gehen und sich dort in die Lobby setzen. In der Tasche hatte er eine
Kopie von Bennie Wrights Phantombild, das Kyle wochenlang perfektioniert hatte.
Joey hatte es sich stundenlang angesehen und war überzeugt, dass er den Mann
überall erkennen konnte. Nun wollte Kyle Bennie Wright digital und in Farbe.
Um 19.30 Uhr ging Kyle durch die Lobby des Hotels und nahm den Fahrstuhl in den
dritten Stock. Wright hatte dieses Mal nur ein kleines Zimmer, keine Suite.
Nachdem Kyle Trenchcoat und Aktentasche auf das Bett geworfen hatte, ging er
ins Bad. "Ich suche nur nach Nigel oder einer anderen Überraschung",
sagte er, während er das Licht einschaltete.
"Heute
bin ich allein", erwiderte Bennie Wright. Er hatte es sich in einem mit
Samt bezogenen Sessel gemütlich gemacht. "Sie haben die Anwaltsprüfung
bestanden. Herzlichen Glückwunsch."
"Danke."
Nachdem er das Bad in Augenschein genommen hatte, setzte sich Kyle auf den
Bettrand. Er wusste jetzt, dass außer ihnen niemand im Zimmer war, doch er
wusste auch, dass Bennie Wright kein Gepäck und keinen Rasierer dabei hatte.
Nichts deutete daraufhin, dass er in dem Raum bleiben würde, nachdem Kyle
gegangen war.
"Sie
rechnen ziemlich viele Stunden ab." Wright versuchte schon wieder,
Konversation zu machen.
"Ich
bin jetzt ein richtiger Anwalt, also wird von mir erwartet, dass ich noch mehr
arbeite als bisher." Kyle prägte sich Wrights Hemd ein - hellblaue
Baumwolle, kein Muster, keine Knöpfe am Kragen, keine Krawatte. Die Hose war
dunkelbraun, aus Wolle, mit Bügelfalte. Das Jackett hing offenbar in dem
Schrank neben dem Bad, und Kyle fluchte insgeheim, weil es ihm nicht
aufgefallen war. Dunkle Socken, keine bestimmte Farbe erkennbar. Schwarze,
abgenutzte Schuhe, die ziemlich hässlich waren.
"Ich
habe Neuigkeiten", sagte er. "Fünf Partner aus der Prozessabteilung
verlassen die Kanzlei - Abraham, DeVere, Hanrahan, Roland und Bradley. Sie
machen ihren eigenen Laden auf und nehmen mindestens drei Mandanten mit. Bei
der letzten Zählung sah es so aus, als würden mindestens sechsundzwanzig
Anwälte mit ihnen gehen. Bradley, einer der Partner, ist der Einzige, der
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