Grisham, John
von hier zu
verschwinden. Draußen würde er noch einen Blick auf das Holiday Inn werfen und
versuchen, sich davon zu überzeugen, dass es dieses Treffen mit Detective
Wright nie gegeben hatte. Er musste an die frische Luft. Und vielleicht mit
jemandem reden.
Er schlich sich aus dem Zimmer, ging auf Zehenspitzen den Flur entlang und
eilte die Treppe hinunter. In der Halle tranken ein paar Vertreter Kaffee. Sie
redeten ohne Punkt und Komma und konnten es offenbar gar nicht erwarten, dass
der neue Arbeitstag begann. Die Sonne war bereits aufgegangen, es schneite
nicht mehr. Die Luft war schneidend kalt. Kyle atmete tief durch, als wäre er
halb erstickt gewesen. Er stieg in seinen Jeep, ließ den Motor an, schaltete
die Heizung ein und wartete, bis der Schnee auf der Windschutzscheibe
geschmolzen war.
Der Schock hatte nachgelassen. Doch die Wirklichkeit war schlimmer.
Er überprüfte die Mailbox. Seine Freundin hatte sechsmal angerufen, sein
Mitbewohner dreimal. Sie waren beunruhigt.
Um
neun musste er in ein Seminar, danach wartete jede Menge Arbeit für das Yale
Law Journal auf ihn. Doch nichts davon Freundin, Mitbewohner, Uni, Zeitschrift
- interessierte ihn im Moment. Er verließ den Parkplatz des Holiday Inn und
fuhr ein paar Kilometer in östlicher Richtung auf dem Highway 1, bis New Haven
hinter ihm lag. Vor ihm befand sich ein Schneepflug, und er hatte nichts
dagegen, ihm im Schneckentempo zu folgen. Hinter ihm stauten sich die Autos,
und zum ersten Mal fragte er sich, ob ihm jemand folgte. Er begann, regelmäßig
Blicke in den Rückspiegel zu werfen.
In der Kleinstadt Guilford hielt er vor einem Drugstore, wo er
Kopfschmerztabletten bekam. Nachdem er sie mit Limonade hinuntergespült hatte,
wollte er schon nach New Haven zurückfahren, als er auf der anderen
Straßenseite ein Diner sah. Seit dem Vortag hatte er nichts gegessen, und er
fühlte sich halb verhungert. Er konnte den brutzelnden Speck beinahe riechen.
Das Diner war voller Einheimischer, die frühstückten. Kyle fand einen Platz an
der Theke und bestellte Rührei mit Speck, Kartoffelpuffer, Toast, Kaffee und
Orangensaft. Schweigend aß er, umgeben von Gelächter und Kleinstadttratsch. Die
Kopfschmerzen ließen schnell nach, und er begann, den Rest des Tages zu planen.
Mit seiner Freundin würde es möglicherweise ein Problem geben. Er hatte zwölf
Stunden nicht angerufen und die Nacht nicht in seiner Wohnung verbracht -
hochgradig ungewöhnlich für einen so disziplinierten Jurastudenten wie ihn. Die
Wahrheit konnte er ihr wohl kaum erzählen. Oder doch? Nein, die Wahrheit
gehörte der Vergangenheit an. Ab jetzt würde er ein anderes Leben führen -
Lügen, Vertuschungen, Spionage, Diebstahl, weitere Lügen.
Olivia stammte aus Kalifornien und studierte im ersten Jahr Jura in Yale,
nachdem sie zuvor einen Abschluss an der University of California gemacht
hatte. Sie war äußerst intelligent und ehrgeizig und hatte kein Interesse an
einer allzu festen Bindung. Sie waren seit vier Monaten zusammen, doch ihre
Beziehung hatte etwas Beiläufiges, weit entfernt von jeder Romantik. Trotzdem
brannte er nicht gerade darauf, ihr stammelnd eine Geschichte aufzutischen, wo
er die letzte Nacht verbracht hatte.
Jemand näherte sich ihm von hinten. Dann tauchte eine Hand mit einer weißen
Visitenkarte auf. Er drehte sich nach rechts und schaute dem Mann ins Gesicht,
den er als Special Agent Ginyard kennengelernt hatte. Jetzt trug er einen
Kamelhaarmantel und Jeans. "Mr Wright würde Sie gern sehen, wenn Sie mit
der Uni fertig sind. Um drei, im gleichen Zimmer wie gestern." Damit war
er wieder verschwunden. Kyle griff nach der Karte, auf der handschriftlich
geschrieben stand: "Heute Nachmittag um drei, Zimmer 225, Holiday
Inn." Er starrte noch ein paar Augenblicke auf die Karte. Der Appetit war
ihm vergangen.
Ist das deine Zukunft?, fragte er sich. Ein Leben, in dem dich immer jemand
beobachtet, dich verfolgt, dir auflauert, dich ausspioniert, deine
Telefongespräche abhört?
An der Tür warteten etliche Leute auf einen Sitzplatz. Die Kellnerin lächelte
ihn an, schob seine Rechnung unter die Kaffeetasse und gab ihm damit zu
verstehen, dass seine Zeit abgelaufen war. Er zahlte an der Kasse. Draußen
musste er sich zwingen, nicht nach verdächtigen Fahrzeugen und potenziellen
Beschattern Ausschau zu halten.
Er
rief Olivia an, die noch im Bett lag. "Alles in Ordnung?", fragte sie.
"Ja,
mir geht's gut."
"Alles
andere
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