Grisham, John
interessiert mich nicht. Sag einfach, dass dir
nichts
passiert ist."
"Mir
fehlt nichts. Es geht mir gut, und es tut mir leid."
"Du
musst dich nicht entschuldigen."
"Tue
ich aber. Ich hätte anrufen sollen."
"Ich
will nichts wissen."
"Das
sehe ich anders. Nimmst du meine Entschuldigung an?"
"Ich
weiß nicht."
"Schon
besser. Ich rechne mit Ärger."
"Pass
auf, dass ich nicht gleich loslege."
"Treffen
wir uns zum Mittagessen?"
"Nein."
"Warum
nicht?"
"Hab
zu viel zu tun."
"Du
kannst das Mittagessen nicht ausfallen lassen."
"Wo
bist du?"
"In
Guilford."
"Wo
liegt das?"
"Kurz
hinter New Haven. Da gibt's einen Laden, wo man großartig frühstücken kann.
Irgendwann zeige ich ihn dir."
"Ich
kann's nicht abwarten."
"Treffen
wir uns heute Mittag im >Grill Bitte."
"Ich
überleg's mir."
Während Kyle nach New Haven zurückfuhr, zwang er sich, nicht ständig in den
Rückspiegel zu schauen. Leise stahl er sich in seine Wohnung und duschte.
Mitch, sein Mitbewohner, war selbst durch ein Erdbeben nicht zu wecken, und als
er schließlich doch aus seinem Zimmer getaumelt kam, saß Kyle am Tisch und las
die Onlineausgabe einer Zeitung. Mitch erkundigte sich nach der vergangenen
Nacht, aber es gelang Kyle, den Fragen auszuweichen und den Eindruck zu
vermitteln, dass er eine Frau kennen gelernt hätte und dass sich die Geschichte
gut anließe. Mitch ging wieder ins Bett.
Vor
ein paar Monaten hatten sie sich strikte Treue gelobt, und nachdem Kyle Olivia
davon überzeugt hatte, dass er sie nicht betrogen hatte, wurde sie etwas
umgänglicher. Die Story, die er während der letzten Stunden ausgebrütet hatte,
lautete so:
Er
hatte mit der Entscheidung gerungen, in der gemeinnützigen Rechtshilfeberatung
zu arbeiten, statt gleich einen Job bei einer der großen Kanzleien anzunehmen.
Wenn er nicht beabsichtigte, später in der Rechtshilfeberatung zu bleiben,
warum sollte er dann überhaupt damit anfangen? Irgendwann würde er sowieso in
New York landen, warum das Unvermeidliche hinausschieben? Und so weiter. Am
vergangenen Abend, nach dem Basketballspiel, hatte er beschlossen, eine
definitive Entscheidung zu treffen. Er hatte sein Handy abgestellt und war,
ohne genau zu wissen, warum, auf dem Highway 1 Richtung Osten gefahren, über
New London nach Rhode Island. Er verlor jedes Zeitgefühl. Nach Mitternacht
schneite es immer heftiger, und er schlief ein paar Stunden in einem billigen
Motel.
Er hatte seine Meinung geändert. Er würde nach New York gehen, zu Scully &
Pershing.
Das alles erzählte er Olivia, während sie im "Grill" ein Sandwich
aßen. Sie wirkte skeptisch, während sie zuhörte, unterbrach ihn aber nicht. Die
Geschichte, wie er die letzte Nacht verbracht hatte, schien sie zwar zu
glauben, aber die plötzliche Meinungsänderung hinsichtlich seiner beruflichen
Zukunft kaufte sie ihm nicht ab. "Du machst Witze", platzte es aus
ihr heraus, als er es hinter sich gebracht hatte.
"Leicht
ist mir die Entscheidung nicht gefallen", sagte er, schon wieder in der
Defensive. Ihm war klar, dass die nächsten Minuten unangenehm werden würden.
"Du,
Mr Pro Bono, der geborene Rechtshilfeberater?"
"Ich
weiß, ich weiß. Ich fühle mich wie ein Abtrünniger."
"Du
bist ein Abtrünniger. Das ist ein Ausverkauf deiner Ideale.
Wie
bei jedem zweiten Jurastudenten in deinem Semester."
"Etwas
leiser, bitte." Kyle blickte sich um. "Mach keine Szene."
Sie senkte die Stimme, starrte ihn aber immer noch ungläubig an. "Du hast
es selbst hundertmal gesagt, Kyle. Wenn wir mit dem Jurastudium beginnen, haben
wir hehre Ideale. Wir wollen Gutes tun, anderen helfen, gegen die
Ungerechtigkeit kämpfen. Aber irgendwann verraten wir diese Ideale. Weil uns
das große Geld verführt. Wir prostituieren uns. Das sind deine Worte,
Kyle."
"Sie
kommen mir tatsächlich bekannt vor."
"Ich
kann's nicht fassen."
Einen Moment lang aßen sie schweigend, aber das Essen war unwichtig.
"Uns
bleiben dreißig Jahre, um Geld zu machen", fuhr Olivia fort. "Warum
können wir nicht ein paar Jahre damit zubringen, anderen zu helfen?"
Kyle hing angeschlagen in den Seilen. "Ich weiß, ich weiß",
murmelte er kraftlos. "Aber hier ist das Timing entscheidend. Ich bin
nicht sicher, ob Scully & Pershing mich später noch einstellen würde."
Die nächste Lüge, dachte er, aber was soll's? Warum aufhören, wenn man einmal damit
angefangen hat? Lügen über Lügen.
"Ich
bitte dich. Du kannst bei jeder Kanzlei in diesem Land einen Job
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