Grisham, John
freute, mal eine Auszeit
nehmen zu können. "Ein süßes Ding, deine Blair", log Kyle mehrmals
mit schlechtem Gewissen. Er hätte sich nie vorstellen können, mit so einem
Plappermaul zusammen zu sein. Aber sie hatte tolle Beine und war genau die Art
Frau, auf die Joey immer gestanden hatte.
Sie redeten ausführlich über New York - die Arbeit in einer großen Kanzlei, das
anstrengende Leben in der Großstadt, die Sportteams, andere Freunde, die auch
dort lebten, und so weiter. Schließlich brachte Kyle das Gespräch auf die alte
BetaBande, und eine Zeit lang gab ein Stichwort das andere. Sie lachten über
Streiche und Mutproben und Partys und waghalsige Dummheiten. Sie waren
fünfundzwanzig, schon weit entfernt von den Verrücktheiten ihrer frühen
Studentenzeit, und für ein paar Minuten war es schön, in Erinnerungen zu
schwelgen. Mehrmals wurde die "Sache mit Elaine" gestreift, aber Joey
ging nie ausführlicher darauf ein. Schnee von gestern.
Beim Abschied war Kyle davon überzeugt, dass Joey die Geschichte verdrängt
hatte und dass ihn, viel wichtiger, in letzter Zeit niemand darauf angesprochen
hatte.
Er fuhr auf der Interstate 80 in Richtung Norden und bog dann nach Osten ab.
New York war nicht mehr weit, weder zeitlich noch entfernungsmäßig. Ein paar
Wochen noch im Schoß der Alma Mater, dann zwei Monate Vorbereitung auf die
Anwaltsprüfung, und Anfang September würde er seinen Dienst bei der größten
Anwaltskanzlei der Welt antreten. Einhundert frischgebackene Juristen würden
dort mit ihm zusammen anfangen, alles brillante Absolventen der besten
Universitäten, alle herausgeputzt mit nagelneuen Klamotten, alle begierig
darauf, ihre steile Anwaltskarriere zu beginnen.
Kyle
fühlte sich von Tag zu Tag isolierter.
Dabei
war er keineswegs allein. Seine Bewegungen wurden von Bennie Wright und dessen
Leuten genauestens überwacht, sowohl in New York als auch in Pittsburgh. Ein
kleiner magnetischer Transmitter von der Größe eines Geldbeutels hing, unter
Schmutzkrusten verborgen, an der hinteren Stoßstange von Kyles rotem Jeep. Mit
Strom vom linken Rücklicht versorgt, sendete er ein konstantes GPS-Signal. Auf
diese Weise konnte Wright von seinem Büro im Süden Manhattans aus exakt
verfolgen, wo sich der Jeep befand. Dass Kyle nach Hause gefahren war,
überraschte ihn nicht, der Besuch bei Joey Bernardo dagegen war höchst
interessant.
Wright war mit technischem Gerät bestens ausgerüstet manches davon war
Hightech, manches nicht, aber alles extrem effektiv, zumal er nur einfache
Bürger observierte und keine Profiagenten. Das Auskundschaften von Firmen war
nicht vergleichbar mit der Arbeit von Geheimdiensten oder Militärspionage.
Kyles Mobiltelefon war schon lange angezapft, und sie hörten jedes Gespräch
mit. Am Telefon hatte der junge Mann noch niemandem von seiner prekären Lage
erzählt. Sie verfolgten sein Geplauder mit Olivia und Mitch, seinem
Mitbewohner, doch relevante Informationen waren bislang Fehlanzeige.
Außerdem lasen sie Kyles E-Mails. Er bekam durchschnittlich siebenundzwanzig
pro Tag, die fast alle mit dem Studium zu tun hatten.
Andere Abhörversuche waren schwieriger. Einer von Wrights Männern hatte im
"Victor's" in York gegessen, einen Tisch entfernt von Kyle und dessen
Vater, hatte aber kaum etwas gehört. Ein anderer hatte es sogar geschafft, ein
Ticket für das Spiel der Penguins zu ergattern, und zwar zwei Sitze neben Kyle,
doch auch das war verlorene Liebesmüh gewesen. Im "Boomerang's" hatte
sich eine von Bennie Wrights Spitzenkräften, eine sechsundzwanzigjährige
Blondine in knallengen Jeans, die Nische neben Kyle, Joey und Blair gesichert.
Sie saß dort zwei Stunden bei einem Bier und las, um nachher zu berichten, dass
das Mädchen die ganze Zeit geredet habe, und zwar ausschließlich über
Belanglosigkeiten.
Dennoch war Bennie Wright im Großen und Ganzen mit der Entwicklung zufrieden.
Kyle hatte seinen Job beim Rechtsdienst für Mittellose in Virginia von jetzt
auf gleich aufgegeben. Er war nach New York geeilt, um den Vertrag mit Scully
& Pershing klarzumachen. Er traf sich immer seltener mit Olivia, und es war
unübersehbar - zumindest für Wright -, dass diese Beziehung keine Zukunft
hatte.
Doch der plötzliche Trip nach Pittsburgh war besorgniserregend. Hatte er sich
Joey anvertrauen wollen? Hatte er es vielleicht sogar getan? War Alan Strock
der Nächste? Würde Kyle versuchen, mit ihm und/oder Baxter Tate
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