Grisham, John
sie
wieder in den Bus und wurden nach Manhattan zurückgefahren. Als sie dort
ankamen, war es längst dunkel. Die müden jungen Anwälte strebten für eine kurze
Nacht nach Hause.
Für
sie wurde der Begriff Erschöpfung gerade neu definiert.
Kapitel
16
Jegliche Hoffnung auf sinnvolle Arbeit wurde am Montagmorgen um 7.30 Uhr sofort
zunichte gemacht, als alle zwölf neuen Prozessanwälte in die Niederungen des
Aktenstudiums abkommandiert wurden. Vom ersten Semester an hatte Kyle
Horrorgeschichten über kluge und ehrgeizige Junioranwälte gehört, die in einem
düsteren Kellergeschoss an einen Schreibtisch gekettet wurden, um sich durch
riesige Berge dicht beschriebener Akten zu arbeiten. Er hatte zwar gewusst,
dass ihn im ersten Jahr eine gehörige Dosis dieser Strafarbeit erwarten würde,
trotzdem war er jetzt nicht darauf vorbereitet. Er und Dale, die Tag für Tag
besser aussah, ohne jedoch irgendwelche Hinweise auf Persönlichkeit zu
offenbaren, wurden einem Fall zugeteilt, bei dem der Mandant von der Finanzpresse
gegrillt wurde.
Ihre Chefin in dieser Sache, eine Kollegin namens Karleen, ließ sie in ihr Büro
kommen, um ihnen die Sachlage zu erklären. In den folgenden Tagen würden sie
einige wichtige Akten durchsehen und dafür mindestens acht Stunden a dreihundert
Dollar in Rechnung stellen. Das sei ihr Stundensatz, bis im November die
Ergebnisse der Anwaltsprüfung bekannt würden. Dann werde der Satz auf
vierhundert Dollar ansteigen.
Niemand verlor auch nur ein Wort darüber, was passieren würde, falls jemand die
Prüfung nicht bestand. Die Neueinstellungen von Scully & Pershing hatten im
Vorjahr eine Erfolgsquote von zweiundneunzig Prozent erreicht, und man ging
einfach davon aus, dass alle durchkamen.
Acht Stunden waren das Minimum, zumindest vorläufig noch, und auch wenn man
Mittagessen und Kaffee möglichst hastig hinunterschlang, bedeutete das in aller
Regel einen 10-Stunden-Tag. Beginn war spätestens um acht Uhr, und niemand
dachte daran, vor neunzehn Uhr Feierabend zu machen.
Karleen hatte im letzten Jahr zweitausendvierhundert Stunden abgerechnet. Nur
falls es die Neuen interessierte. Sie arbeitete seit fünf Jahren in der Kanzlei
und tat, als wäre sie seit Urzeiten dabei - und eine zukünftige Partnerin. Kyle
sah sich in ihrem gut ausgestatteten Büro um und bemerkte ein Diplom von der
Columbia University und ein Foto mit einer jüngeren Ausgabe von Karleen auf
einem Pferd, aber keines mit Mann, Freunden oder Kindern.
Sie erklärte, es könne sein, dass einer der Partner Kyle oder Dale spontan für
ein eiliges Projekt brauche, sie sollten also vorbereitet sein. Aktenstudium
sei zwar nicht gerade glamourös, aber so etwas wie ein Sicherheitsnetz für die
Neuen. "Sie finden dort immer Arbeit, die abgerechnet werden kann",
erläuterte Karleen. "Acht Stunden ist das Minimum, nach oben sind
natürlich keine Grenzen gesetzt."
Ist ja großartig, dachte Kyle. Wem aus irgendeinem Grund zehn Stunden am Tag
nicht genug waren, der durfte sich anschließend noch beim Aktenstudium
austoben.
Bei ihrem ersten Fall ging es um eine Firma namens Placid Mortgage. Ruhige
Hypothek, dachte Kyle, was für ein grotesker Name, aber er schwieg, weil
Karleen bereits die Fakten des Falls herunterleierte. 2001, als die neue
Regierung die meisten regulatorischen Maßnahmen einstellte und die Wirtschaft
weitgehend sich selbst überließ, fingen Placid Mortgage und einige andere große
Hypothekenbanken an, mit ihren Darlehen aggressiv an den Markt zu gehen. Sie
schalteten auffällige Werbekampagnen, vor allem im Internet, und verführten
Millionen von Amerikanern der unteren und mittleren Schichten zum Kauf von
Immobilien, die sie sich in Wirklichkeit gar nicht leisten konnten. Köder war
die Zinszahlung der Hypothekendarlehen, die bei Halsabschneidern wie Placid in
bislang nie dagewesener Weise variabel war. Placid machte haufenweise schnelle
Verträge, kassierte hübsche Abschlussgebühren und verkaufte das faule Zeug dann
auf den Sekundärmärkten. Als der überhitzte Immobilienmarkt einbrach, besaß die
Bank die Papiere längst nicht mehr. Der Wert der Eigenheime stürzte in den
Keller, und die Darlehen wurden massenhaft aufgekündigt.
Karleen drückte sich in ihrer Zusammenfassung beileibe nicht so drastisch aus,
aber Kyle wusste schon seit einiger Zeit, dass die Kanzlei Placid Mortgage
vertrat. Er hatte ein Dutzend Artikel über die Hypothekenkrise gelesen und
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