Grisham, John
war
dabei häufig auf den Namen Scully & Pershing gestoßen, immer im
Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen bei Placid.
Die Anwälte versuchten nun, Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Hypothekenbank
wurde mit Klagen überhäuft, deren schlimmste eine Gruppenklage von
fünfunddreißigtausend ehemaligen Darlehensnehmern war, die ein Jahr zuvor in
New York eingereicht worden war.
Karleen führte sie in einen langgestreckten, verliesartigen Raum ohne Fenster
mit nacktem Betonboden, schlechtem Licht und sauberen Stapeln weißer Kartons
mit der Aufschrift "Placid Mortgage". Das war also der Aktenberg, von
dem Kyle schon so viel gehört hatte. Die Kartons, erklärte Karleen, enthielten
die Akten aller fünfunddreißigtausend Kläger. Sämtliche Akten müssten
durchgesehen werden.
"Sie
sind nicht allein", sagte Karleen mit einem aufgesetzten Lachen, als Kyle
und Dale schon dankend ablehnen wollten. "Wir haben weitere junge Kollegen
und ein paar Assistenten daran sitzen." Sie öffnete einen der Kartons, zog
eine rund drei Zentimeter dicke Akte heraus und fasste kurz zusammen, was das
Prozessteam von ihnen erwartete.
"Vor
Gericht", sagte sie gewichtig, "müssen unsere Anwälte sagen können,
dass wir jede einzelne Akte dieses Falls gelesen haben. Das ist von
entscheidender Bedeutung."
Wahrscheinlich war es auch von entscheidender Bedeutung, dachte Kyle, dass die
Kanzlei Mandanten hatte, die für eine so sinnlose Arbeit so tief in die Tasche
griffen. Ihm war plötzlich schwindelig, als ihm klar wurde, dass er in wenigen
Minuten loslegen und für eine Stunde seiner Zeit dreihundert Dollar berechnen
würde. Er war nicht annähernd so viel wert. Er war noch nicht einmal ein
richtiger Anwalt.
Karleen ließ sie allein und eilte mit auf dem glatten Beton klappernden
Absätzen aus dem Raum. Kyle glotzte die Kartons an, dann Dale, die ebenso
fassungslos dreinblickte wie er. "Das soll ja wohl ein Scherz sein",
sagte er. Aber Dale schien entschlossen, sich zu beweisen. Sie nahm einen der
Kartons, ließ ihn auf den Tisch fallen und zerrte ein paar Akten hervor. Kyle
ging zum anderen Ende des Raums, so weit weg von ihr wie möglich, und suchte
sich selbst ein paar Mappen heraus.
Er öffnete eine der Akten und sah auf die Uhr. Es war 7.50 Uhr. Bei Scully
& Pershing wurde im Zehnteltakt abgerechnet. Ein Zehntel von einer Stunde
sind sechs Minuten. Zwei Zehntel sind zwölf und so weiter. 1,6 Stunden sind
eine Stunde und sechsunddreißig Minuten. Sollte er die Uhr zwei Minuten
zurückdrehen, auf 7.48 Uhr, um vor acht Uhr noch zwei Zehntel zu berechnen?
Oder sollte er erst einmal genüsslich die Arme strecken, einen Schluck Kaffee
trinken und sich bequem einrichten, bis es 7.54 Uhr war, um dann seine erste
berechnungsfähige Minute als Anwalt anzusetzen? Aber die Frage stellte sich gar
nicht. Dies war die Wall Street, wo alles aggressiv angegangen wurde. Im
Zweifel immer aggressiv abrechnen. Tust du es nicht, tut es der, der nach dir
kommt, und dann kannst du ihn nicht mehr einholen.
Es
dauerte eine Stunde, die Akte Wort für Wort zu lesen.
Genau
genommen 1,2 Stunden. Plötzlich hatte er keinerlei Bedenken mehr, Placid 1,2
Stunden oder dreihundertsechzig Dollar für dieses Aktenstudium in Rechnung zu
stellen. Vor gar nicht langer Zeit, ziemlich genau vor neunzig Minuten, hatte
er kaum glauben können, dass er dreihundert Dollar wert war, da er die
Anwaltsprüfung noch nicht gemacht hatte. Doch jetzt war er bekehrt. Placid
Mortgage schuldete ihm dieses Geld, weil sich die Firma mit ihrer Gier eine Klage
eingehandelt hatte. Irgendjemand musste sich durch diesen Schmutz wühlen. Er
würde die Bank aus Rache besonders aggressiv zur Kasse bitten. Dale am anderen
Ende arbeitete fleißig, ohne sich ablenken zu lassen.
Irgendwann mitten in der dritten Akte machte Kyle eine kurze Pause, um über ein
paar Dinge nachzudenken. Während die Zeit weiterlief, überlegte er, wo der
Trylon-Bartin-Raum sein mochte. Wo lagerten die geheimen Akten, und wie waren
sie geschützt? In welcher Art von Tresor wurden sie aufbewahrt? Dieses Verlies
schien ohne Sicherheitsvorkehrungen zu sein, aber wer würde wohl Geld ausgeben,
um einen Haufen Akten über faule Kredite zu schützen? Wenn es hier irgendwo
brisantes Material über Placid gab, dann war es sicherlich so versteckt, dass
Kyle es nicht finden würde.
Er dachte über sein Leben nach. Schon in der dritten Stunde seines Berufslebens
begann er an seinem Verstand zu zweifeln.
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