Grisham, John
Wer konnte hier sitzen und stunden-
oder tagelang über bedeutungslosen Texten brüten, ohne dem Wahnsinn zu verfallen?
Was hatte er erwartet von seinem ersten Jahr als Anwalt? Ob es in einer anderen
Kanzlei anders wäre?
Dale verschwand und kam nach zehn Minuten wieder. Wahrscheinlich eine
Toilettenpause. Mit Sicherheit hatte sie die Uhr weiterlaufen lassen.
Mittagessen gab es in der Cafeteria im zweiundvierzigsten Stock. Es war viel
über die hohe Qualität des Essensangebots geredet worden, wie erstklassig die
Köche, wie frisch die Zutaten, wie überwältigend die Auswahl an leichten
Gerichten seien. Natürlich durfte man das Gebäude verlassen und in irgendein
Restaurant gehen, aber die wenigsten Kollegen wagten das. Es gab die offizielle
Firmenpolitik, die sauber dokumentiert und allen bekannt war, aber es gab auch
viele ungeschriebene Gesetze. Eines davon war, dass die Greenhorns im Haus
aßen, es sei denn, ein Mandant zahlte die Restaurantrechnung. Auch viele der
Partner nutzten die Cafeteria. Es war wichtig für sie, sich bei den
Untergebenen sehen zu lassen, über das ausgezeichnete Essen zu schwadronieren
und vor allem binnen dreißig Minuten damit fertig zu sein, als vorbildliches
Beispiel für Effizienz. Die Einrichtung im Art-deco-Stil war hübsch gemacht,
trotzdem hatte der Raum das Ambiente einer Gefängniskantine.
An
jeder Wand hing eine Uhr, und man hörte sie fast ticken. Kyle und Dale setzten
sich mit Tim Reynolds zusammen an einen kleinen Tisch vor einem großen Fenster
mit atemberaubender Aussicht auf die umliegenden Wolkenkratzer. Tim wirkte
traumatisiert - glasige Augen, leerer Blick, schwache Stimme. Sie tauschten
Horrorgeschichten über das Aktenstudium aus und scherzten, dass sie die
Juristerei wohl bald aufgeben würden. Das Essen war gut, aber darum ging es
hier gar nicht. Die Mittagspause war lediglich ein guter Vorwand, um von dem
Aktenberg wegzukommen.
Doch sie war schnell vorbei. Man verabredete sich auf einen Drink nach
Feierabend, Dales erstes echtes Lebenszeichen, dann kehrten alle wieder in ihre
jeweiligen Verliese zurück. Zwei Stunden später begann Kyle zu halluzinieren
und an die glorreichen alten Tage in Yale zu denken, als er Chefredakteur des
renommierten Yale Law Journal gewesen war - mit eigenem Büro - und Dutzende
hochintelligenter Mitstudenten geführt hatte. Diese vielen Stunden Arbeit
hatten zu einem Endprodukt geführt, einer bedeutenden Fachzeitschrift, die
achtmal im Jahr erschien und von Anwälten, Richtern und Professoren gelesen
wurde. Er stand als Chefredakteur ganz oben im Impressum. Den wenigsten
Studenten widerfuhr die Ehre eines solchen Titels. Ein Jahr lang war er der
König gewesen.
Wie
konnte man nur so schnell so tief falle!
Das
gehört eben zur Grundausbildung, redete er sich ein.
Rekrutendrill.
Aber was für eine Verschwendung! Placid Mortgage, ihre Aktionäre, ihre Gläubiger
und wahrscheinlich alle amerikanischen Steuerzahler würden auf den
Verfahrenskosten sitzen bleiben, Kosten, die unter anderem durch die
halbherzigen Bemühungen eines Kyle McAvoy in die Höhe getrieben wurden, der
nach dem Studium von neun der insgesamt fünfunddreißigtausend Akten zu der
Überzeugung gelangt war, dass diese Mandantin hinter Gitter gehörte. Und zwar
CEO, Manager, Vorstand - alle miteinander. Man kann eine Firma nicht komplett
ins Gefängnis stecken, aber für Placid Mortgage und ihre gesamte Belegschaft
sollte, fand er, eine Ausnahme gemacht werden.
Was würde John McAvoy denken, wenn er seinen Sohn jetzt sehen könnte? Kyle
lachte und erschauerte bei dem Gedanken. Sein Vater würde ihn mit seinem
Sarkasmus fertigmachen, und Kyle würde es ertragen, ohne sich zu wehren. In
diesem Augenblick war McAvoy senior entweder in seinem Büro und beriet einen
Mandanten oder bei einem Gerichtstermin und maß sich mit einem gegnerischen
Anwalt. Auf jeden Fall war er mit echten Menschen zusammen, in echte Gespräche
verwickelt, und sein Leben war alles andere als langweilig.
Dale
saß fünfzehn Meter entfernt mit dem Rücken zu ihm.
Es
war ein schöner Rücken, soweit er das sehen konnte, sportlich und wohlgeformt.
Im Moment konnte er nicht mehr von ihr sehen, aber ihre restlichen Körperteile
hatte er bereits in Augenschein genommen - schlanke Beine, ebensolche Taille,
kleine Brüste, aber man konnte ja nicht alles haben. Was würde passieren,
überlegte er, wenn er a) sich in den nächsten Tagen und Wochen langsam an sie
heranmachte, b) er
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