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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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eine Schlucht hinabgestürzt oder ertrunken. Aus dem Dickicht kam er, sagte der Bruder, stellte sich uns entgegen und weinte nicht einmal. Verärgert, weil man ihn gestört hatte, die Hosentaschen und die Fäuste angefüllt mit gesammelten Steinen.

D er Anfall hatte sich durch nichts angekündigt. In der letzten Stunde vor der großen Pause, als Schramm eine Klassenarbeit in Physik schreiben ließ. Der Unterricht fand im Keller statt. Die Fenster zeigten in Hohlräume, schachtartig ins Gemäuer gesetzt, darin winterliches Laub sich sammelte, Reste von Vogelnestern, Zigarettenstummel, verendete Kleintiere. Draußen mähten die Landschaftsgärtner, blühte der Weißdorn. Das Brummen der Motoren drang noch durch die geschlossenen Fenster. Im Raum war es kühl, die Aufgabenbögen flatterten in den Händen der Kinder.
    Vier Aufgaben, bei denen Größe und Bildlage einer optischen Abbildung zu berechnen waren. Vom Dingpunkt aus geht ein Bündel Strahlen durch ein Brechungssystem, wird gestreut, gesammelt, gebeugt oder zurückgeworfen, um wieder zusammenzutreffen im Bildpunkt, und das ist der Punkt, den wir sehen. Es war auf dem Aufgabenblatt zwischen den Fragen viel weißer Raum gelassen, Platz für die Zeichnungen, so dass manche der Kinder beim ersten Daraufsehen lachten. Ob das alles sei. Wer eine Frage hat, hebt die Hand, sagte Schramm: Ansonsten wird ab jetzt nicht mehr gesprochen.
    Als alle schreibend saßen, kam der Schwindel, Kopfschmerz, der von rechts in die Schläfe stach. Bereits in der Nacht zuvor hatte er erbrechen müssen, war mit verschwitztem Nacken aufgewacht, ohne Traum. Etwas Falsches gegessen, versuchte er sich zuzureden, den Blick zum Fenster gerichtet, auf die über das Schachtgitter gebeugten Zweige. Er horchte auf das Sausen in seinem Ohr. Aus seinem Ohr, doch es klang, als käme es aus der Ferne.
    Es wollte nicht abbrechen. An die Luft, er musste wohl nur an die Luft. Kaum einer blickte auf, als er, unpassend für die Jahreszeit, den Anorak anzog, vage in den Raum nickte, den aus der zweiten Reihe gereckten Arm absichtlich übersah. Da hatte er schon den Koffer in der Hand, ein tadelndes Augenpaar im Nacken, als er sich in kurzen hastigen Schritten entfernte. Die hallenden Schulhausflure, die Kurven der baumbestandenen Auffahrt zum Parkplatz hinab, der Koffer in seiner Hand schwang vor und zurück. Seine Erinnerung an diese Momente blieb von großer Deutlichkeit. Keine Übelkeit, keine Schmerzen, keine Taubheit in den Gliedern, nur den Geruch frisch geschnittenen Grases erinnerte er und das Zittern der Laubschatten auf dem Boden vor ihm, unter ihm, bis er auf dem letzten Stück Weg vor dem verschlossenen Tor zum Parkplatz hingestürzt war.
    Sein Koffer hatte sich beim Fallen geöffnet, über die Straße verteilt lagen aufgeschlagene Hefte, die Zeitung, das in Silberfolie eingeschlagene Frühstücksbrot. Die Thermoskanne war hangabwärts bis auf die Landstraße gerollt, knapp neben dem Mittelstreifen warf ihr Aluminium das Sonnenlicht zurück. Er setzte sich, auf durchgedrückte Arme gestützt, dass der warmgeglühte Asphalt seine Handflächen wärmte. Durch die Maschen des Torgitters sah er auf die geparkten Reihen. Ob er fahren sollte. Wahrscheinlich wäre es unvernünftig. Gesträuch trieb blühend über den metallenen Zaun zu beiden Seiten des Tors, krallte spannrückige Stämme in den engen Streifen Gras neben der Auffahrt, atmete gärenden Geruch in den fast noch kühlen Schatten, in den Asphaltstaub hinein. Weiter fort, am Ende der Hecke beinahe, versuchte der Neuntöter zu locken mit rau gepresstem Schwatzen. Schramm saß und konzentrierte den Blick auf die Furchen in den Stämmen der Sträucher. Er wollte warten, wenigstens, bis das Blendhelle am Rand seines Sichtfelds, die Kette gekrümmter Reflexionen in den Wölbungen der Blechdächer, aufgehört hätte, sich zu bewegen.
    An dem Tag war er zu Fuß nach Hause gegangen. Vorbei an der Bushaltestelle, das kurze Stück Landstraße entlang bis zum Kreisverkehr, wo es nach links zur Autobahnausfahrt, geradeaus zur Innenstadt ging. Anfangs spürte er beim Gehen ein Stechen in der linken Hüfte, das sich aber bald, nach wenigen Schritten schon gab.
    Der Mann! rief ein Kind, und wurde in einer Diagonale über den leeren Platz gezogen, um eine Kulisse zu räumen, die bereits für eine andere Handlung zurechtgerückt worden war. Noch im Laufen drehte sich das Kind, zeigte, aus der Hand fiel ihm ein Eis. In der Eile. Schramm folgte der Linie, die

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