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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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das Kind mit seiner Mutter abgelaufen war. Vorbei am Brunnensaum in der Mitte des Platzes, wo Tauben an der Eistüte des Kindes pickten, bei der blasigen Lache aus Himbeere und Vanille, die, schon restlos flüssig geworden, in die Fugen zwischen den Katzenköpfen sickerte.
    Schramm blieb nicht stehen. Erst im Winkel am Rand des Platzes, eingebogen in die ansteigende Gasse, prüfte er tastend sein Gesicht, verfolgte mit einer Fingerspitze das dünn verkrustete Rinnsal vom Mundwinkel zum Kinn. Er musste sich in die Zunge gebissen haben beim Fall; wenn er mit der Spitze an den Gaumen, die erste Zahnreihe stieß, konnte er sie spüren, die kleine verletzte Stelle im Muskel, doch schmeckte er nichts. Mit einem bespuckten Taschentuch wischte er sein Kinn, das Gesicht nah am Rückspiegel eines geparkten Lieferwagens, ging weiter, eng an den warmen Mauern entlang, und blieb nicht stehen. Wie viele ihn noch so gesehen haben mochten. Lange fand er keinen Papierkorb, bald vergaß er den warmen, staubrosa Ballen in seiner Faust. Aus dem Tritt geraten. Das konnte vorkommen. Ob er sich untersuchen lassen sollte, wahrscheinlich würde es sein müssen. Er würde es erklären müssen. Beschwerden würden noch heute Nachmittag eingehen, besorgte Eltern gleich, nachdem ihre Kinder berichtet hatten, im Sekretariat anrufen: Er habe seine Pflicht vernachlässigt.
    Keinen Tag gefehlt hatte Schramm nach diesem Zwischenfall. Und als die Kollegen sich wenig später beim Griechen am Rathausplatz zum Trinken trafen, saß er mit ihnen bis zum Morgengrauen, wurde wie alle um ihn herum immer lustiger, immer ausgelassener. Weißt du eigentlich, wie sie dich nennen, fragte die Referendarin, und er konnte nur lachen.
     
    Man braucht zwar, was nicht gerade misslungen ist, nicht gleich zu loben. Unscheinbar sahen die fertig bereinigten Pflasterzeilen aus. Schon schöner, den Haufen zu betrachten, die Pflanzreste am Rand der Auffahrtsrampe, vorläufig gelagert in dem Winkel vor dem Garagentor. Hier, wo es immer schattig war, wo er selbst jetzt, da die Hitze ihre flache Hand auf die Straße drückte, nahezu unbehelligt seine Arbeit tat. Bei Gelegenheit müsste ein Eimer her. Vorerst störte es nicht, er mochte es, die Reste anzusehen, wie sie da lagen, am Leben festhielten. Fettglatte Laubblätter, lange Nektarschuppen. Kraftvoll, jung und weiß schoben die Stiele sich aus den Blattscheiden der Erdgerste. Feigwurz ist ihr anderer Name, und ein Name weiß, wovon er redet, wie sie sich räkelt am Boden mit ihren Brutknollen, winzigen, halb in die Blattachseln versenkten Köpfchen.

D as Gesicht war von Waidschmidt, vom Hals an der Körper der eines Kindes in Windeln gewesen, eines nackten Hundes, einer gefesselten Frau. Jeder kann es sich ansehen, hatte die Vertrauenslehrerin gesagt. Im Hufeisen saßen die Lehrer, schweigend schauten sie auf zum groß projizierten Bild. Auf seinem Computer oder seinem Handy, das ist in etwa so, als hinge dieses Bild in der ganzen Stadt an jedem Pfahl, so müssen Sie es sich vorstellen, sagte sie, neigte sich an ihr Pult, unruhig kreiste ihr Blick. Es sind Kinder, sagte Schramm. Er stand auf, die Blenden hinaufzukurbeln, das Flimmern des Bildes störte. Ekelhaft waren diese Bildchen zu nennen, oder lächerlich, jedenfalls nicht schlimmer als andere, frühere Misshelligkeiten.
    Zum Beispiel war Schramm einmal zufällig Zeuge geworden, wie der Junge, an seinem Platz in der vorletzten Reihe, von mehreren Seiten des Raums mit winzigen, speichelbefeuchteten Kugeln aus Löschpapier beschossen wurde. Wenig später kam während des Fußballtrainings seine Kleidung abhanden, und niemand wollte es gewesen sein. Und doch lag hier keine Grausamkeit vor, keine Quälerei: eher ein von beiden Seiten routinemäßig durchgeführter Ablauf. Ein oft aus tiefinnerlicher Langeweile, im Übersprung zwischen zwei Handlungen betriebenes Spiel. Ohne weitere Eingriffe brachen die Versuche ab. Es blieb, im Großen und Ganzen, still um ihn. Und es war nicht wie sonst, wenn das Opfer tut, als bemerkte es nicht, wie ihm mitgespielt wird. Betont unbeteiligt, betont lustlos wendet es sich ab, verharrt reglos, als wären diese Taktiken viel niedrigerer Lebensordnungen auf den Menschen übertragbar. Kinder sind keine Vögel, sie wissen, wann sie einen Fang gemacht haben. Mit Waidschmidt war es eine andere Geschichte. An ihm stießen die kleinen Attacken sich ab, weil er sie nicht als solche verstand. Wenig war ihm an der Liebe der anderen gelegen, wenig an

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