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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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ausgerufen, das Glas vor ihrem Gesicht geschwenkt, am Schnaps gerochen, bevor sie ihn schluckte, die Augen geschlossen, ihnen zeigte, wie Schramm denken musste, zeigte und vormachte, wie sehr sie bei sich war, bei sich und ihrem Genuss.
    Gerade nicht nach den wichtigen Dingen fragte sie und wollte Genaueres wissen, immer bloß bei den Nebensachen hakte sie, wie sie es nannte, nach. Etwas daran hatte ihn gestört. Und dabei, wie er sich immer wieder sagen musste, war es doch wieder ihr Beisein gewesen, das die Unterhaltungen vorantrieb, sie überhaupt am Leben hielt. Leichter, als wenn sie, Viktor und er, unter sich waren. Nur zu zweit kam es dahin, dass einer den anderen derart reizte, dass sich gar nicht mehr miteinander reden ließ; dass sie sich über ganz unerheblichen Angelegenheiten die Stimmung verdarben.
    Es war ihm nicht besonders lieb, wenn der Bruder ins Erzählen kam und sich über seine Kranken beklagte. Über ihre Fragen, warum es ausgerechnet sie getroffen habe, ob sie ihre Lebensweise ändern oder sich in ihre Anlage fügen sollten, ob die Krankheiten vom Charakter herrührten, von der Seele und vom Temperament. Und dazwischen laufen sie zu diesen Wunderheilern, schimpfte Viktor, und lassen sich erzählen, von Körper und Schicksal, Kosmos und Seele, und dass eine bösartige Wucherung keine Krankheit wäre, sondern ein Symbol, das in Wirklichkeit für etwas ganz anderes steht, und lassen sich Pulver verschreiben gegen die Symbole, Pulver und Kügelchen, spottete Viktor, um wieder ins Reine zu kommen mit sich.
    Schramm dachte an die Untersuchung, das abgedunkelte Zimmer, die vor weißen Leuchttafeln angebrachten Abbildungen. Viel Zeit hatte der Arzt nicht gehabt. Dem Äußeren nach stammte er aus einem anderen Land, wahrscheinlich Indien; wahrscheinlich nicht älter als dreißig, doch schon Spezialist auf seinem Gebiet. Im Stehen hatte er Schramm knapp zur Schulter gereicht. Sein Haar war auf wenige Millimeter geschoren, die Haut schattig unter den Augen. Viel schlief der nicht. Schmal, behände, bewegte er sich zwischen seinen Geräten; leicht, sich ihn bei akrobatischeren Bewegungen vorzustellen. Das ist das beste Bildgebungsverfahren, das uns zur Verfügung steht, erklärte der Arzt, auf die Aufnahmen deutend. Nichts, verkündete er, als handelte es sich bei dieser Erkenntnis um einen Verdienst des Apparats. Und das Sausen, fragte Schramm, es kommt plötzlich, das Sausen im Ohr, Taubheit im Bein.
    Nichts Seltenes, entgegnete der Arzt, in Ihrem Beruf. Eben nicht, erwiderte Schramm, aber sein Widerspruch war im Grunde wertlos, er verstärkte die Enttäuschung des jungen Spezialisten nur: Lernen Sie sich selbst kennen, sagte der, plötzlich nachdenklich geworden. Das muss man im Bewusstsein behalten: Alles, was ich Ihnen sagen kann, bezieht sich auf Statistiken, Rechenbeispiele, das ist Mengenlehre, doch kein Organismus gleicht dem anderen, am Ende fällt alles zurück auf den unberechenbarsten aller Faktoren, den Faktor Mensch.
    Man muss ja schon froh sein, sagte Schramm, dass es nichts Ernstes ist, beendete der Arzt den Satz für ihn und blieb ausatmend vor dem verhängten Fenster stehen, bevor er an den Leinen der Blenden riss. Aus heiterem Himmel, das hätte Schramm zu bedenken geben müssen, aus dem laufenden Unterricht heraus hatte er das Bewusstsein verloren und war hingestürzt. Wird es noch einmal geschehen, fragte er, sich einstweilen zu schonen, riet der Arzt und nannte den Prozentsatz derjenigen, die einmalig einen derartigen Anfall erlitten hatten; einmal und nicht wieder. Die Ursachen seien in den allermeisten Fällen harmlos, Folgen blieben in der Regel aus. Grund zur Sorge bestehe nicht.
    Schnell und schneller, wie Schramm sich jetzt erinnerte, war er den Krankenhausflur abgeschritten, vorbei an den geschlossenen Türen zu beiden Seiten, hin zu den Fahrstühlen am Ende des Flurs, beim Fenster zum Tal. Aber schon tags darauf war es mit der Freude, am Leben zu sein, wieder nicht mehr so weit her gewesen. Noch oft hatte er die Bilder hervorgeholt und gegen das Licht gehalten, nichts erkennen können außer wieder nur Furchen und Lappen. Etwas Ernstes, das wäre wenigstens etwas Festes gewesen. Weil er Gewissheit wollte, hatte er endlich den Bruder angerufen. Ob es dringend sei, war die erste Frage gewesen. Er konnte es nicht am Telefon, er musste es persönlich besprechen. Bei allen Vorbehalten, dem Bruder ausgerechnet mit einer solchen Geschichte zu kommen. Aber es war doch alles zu

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