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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hardebusch
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was auf dieser Klippe geschehen ist? Hast du den Ort vergessen, an dem dein Vater starb – und hast du vergessen, durch welche Macht er sein Leben verlor? Weißt du nicht, was die Aufgabe eines Jägers ist? Es ist seine Aufgabe …«
    »… die Welt vor Unheil zu bewahren«, beendete sie seinen Satz. Oft genug hatte ihr Vater ihr das gesagt, als dass sie sich nicht daran erinnern würde. Mit eisiger Kälte spürte sie die Macht des Drachen hinter sich. Vermutlich hatte er bereits begonnen, sich zu heilen. Schon bald könnte er zu einem Schlag ansetzen, der ihren Körper zerschmettern würde wie den des Wolfs, und kurz sah sie den Schwarzen Drachen vor sich, hoch aufgerichtet vor dem zusammengebrochenen Leib ihres Vaters. Zorn pochte in ihren Schläfen, als sie die Schuppe langsam sinken ließ – und ein Schmerz, der stechend und klar war und ein Bild in sie hineinschickte: das Bild ihres eigenen Gesichts in der Dunkelheit. Rima sah sich auf dem Waldboden, sah sich aufschauen zu jenem Wesen, das sie immer gefürchtet hatte, und als sie sich in seinen Augen spiegelte, umloderte sie goldenes Feuer. In der Mitte jedoch, tiefschwarz und flackernd, stand die Flamme, und erstmals, seit sie in diese Schatten gesehen hatte, verspürte sie keinen Anflug von Furcht mehr. Sie kannte diese Dunkelheit: Es war dieselbe, die ihr Vater an ihrem letzten gemeinsamen Abend im Blick getragen hatte – diese Schwärze, durch die er etwas sehen konnte, das allen anderen verborgen blieb. Ihr Vater lächelte in den Augen des Drachen, und ihr Zorn zerbrach mit seinem Bild.
    »Ihr habt Recht«, sagte sie und hob langsam die Schuppe, die Kayron zurückweichen ließ wie ein Tier vor dem Feuer. »Mein Vater starb im Feuer eines Drachen. Ich weiß, welche Gefahren ein solches Wesen birgt, und es ist die Aufgabe eines Jägers, die Welt vor Unheil zu bewahren.« Kurz verstummte sie. »Der Drache aber verheißt kein Unheil. Er trägt dieselbe Sehnsucht in sich, die meinen Vater hinaus in die Welt trieb und die mich in die Schatten führte. Sie ist der Herzschlag dieser Welt, und keine Furcht, keine Gier, kein Zorn darf dazu führen, sie zu verwunden. Es ist unsere Aufgabe, sie zu bewahren. Habt Ihr das denn nicht gewusst? Wie kann es sein, dass Ihr, der große Jäger der Schatten, der diese Wesen seit so langer Zeit verfolgt, nichts versteht von dem, was sie in sich tragen?«
    Kayron sah sie an. Kurz flackerte ein Schimmer durch seine Augen, und sie meinte, ihn selbst darin zu erkennen, in jungen Jahren, das Gesicht zu einem Lachen verzogen, ein Kind in seinen Armen. Dann jedoch kehrte das schwarze Glimmen in seine Augen zurück und riss das Bild mit sich. Mit einem Schlag war jede Sanftmut, jeder Schmerz wieder aus seinem Blick gewichen, und Rima fröstelte, als er sie mit blanker Grausamkeit ansah.
    »Ganz der Vater«, murmelte er. »Schon bei ihm war es eine Verschwendung – diese Waffe in seinen Händen. Ebenso wie bei dir.«
    Rima schnaubte verächtlich. »Ihm ist es gelungen, sie zu erringen«, erwiderte sie. »Er hat es geschafft, sie zu stehlen – im Gegensatz zu Euch.«
    Da lachte Kayron hart auf. »Narr von einem Halblingskind«, raunte er. »Niemand kann einem Drachen eine seiner Schuppen stehlen, es sei denn, er wollte auf diese Weise zu einem Teil seines schrecklichen Leibes werden. Die Schuppe eines Drachen kann nur verschenkt werden, denn sie führt zu seinem Hort. Dein Vater war kein Jäger. Er war ein Drachenfreund. Und du hast mir nichts entgegenzusetzen, denn du bist schwach – wie er!«
    Mit zornverzerrtem Gesicht stürzte er vor. Erschrocken riss Rima die Schuppe in die Höhe. Sie meinte schon, das flammende Schwert durch ihre Brust gleiten zu fühlen – da zog sich ein goldener Glanz über ihren Körper, ein Panzer, hart wie der eines Drachen, und er ließ das Schwert abprallen, als bestünde es aus Holz. Kayron starrte sie an, der Schreck verzerrte sein Gesicht zu einer Fratze. Im nächsten Moment hörte sie ein Grollen hinter sich. Der Laut durchdrang sie wie eine Melodie und rief etwas im Inneren der Erde, das größer war als alles, was Rima bisher erfahren hatte. Die Schuppe in ihrer Hand wurde eiskalt, doch sie ließ sie nicht los, und da brachen die Bilder der verlorenen Gedanken in sie hinein. Sie sah tanzende Menschen, sah flammende Himmel und tosende Meere, und sie fühlte die Blüten des Baumes auf ihrem Gesicht wie warmen Regen. Kein Gedanke im Hort des Drachen war jemals wirklich verloren gewesen, das wusste

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