Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
Bonne wartete die Antwort gar nicht erst ab. »Na siehst du, wie Vater immer sagt: Wenn es hart auf hart kommt, zählt nur die Familie. Außerdem ist das Seil ganz neu und noch etwas hart.«
Milo stampfte verärgert auf seinen Bruder zu, entriss ihm das Seil, knotete ein Ende um den Stamm der Trauerlinde und warf das andere Ende in die Seufzerschlucht, die sich mit einer Länge von zwölf Meilen und einer Breite von dreihundert Fuß quer durch den Düsterkrallenwald schnitt.
»Seit wann schert es dich, was Vater sagt?«, fauchte Milo und begann, sich hinabzulassen. »Kommst du jetzt mit, oder muss ich dein neues Seil allein einweihen?«
Bonne hatte sich schon längst entschieden. Was Magier taten oder auch nicht, interessierte ihn herzlich wenig, aber ein mögliches Abenteuer, an dessen Ende vielleicht ein verborgener Schatz wartete, war etwas, zu dem kein Halbling nein sagen konnte.
Wenige Minuten später hingen die beiden Brüder zwanzig Fuß unter dem Rand der Schlucht und starrten auf ein Geflecht aus Wurzeln und Steinen. Unter ihnen baumelte das Ende des Seils wie eine Schlange, die sich aus dem Griff eines Adlers zu befreien versuchte. Unter dem Seilende folgten fast tausend Fuß erschreckendes Nichts, das in einer zerklüfteten Landschaft aus Felsen und toten Bäumen endete.
»Da unter dem Vorsprung, wo die Wurzeln am dichtesten sind«, erklärte Bonne und zeigte in die entsprechende Richtung.
»Und jetzt?«, fragte Milo etwas hilflos.
»Da die Felswand uns nicht entgegenkommt und wir uns nicht Ewigkeiten hier festhalten können, würde ich es mit Schwingen probieren. Du hängst unter mir, das ist deine Aufgabe.«
Milo holte tief Luft und richtete den Blick starr auf die Felswand vor sich, dann begann er mit den Beinen Schwung zu holen – erst vorsichtig, dann immer kraftvoller. Ein ums andere Mal kamen sie den aus der Felswand ragenden Wurzeln näher. Milo holte mehr Schwung, während Bonne versuchte, eine der Wurzeln zu greifen.
»Noch ein bisschen mehr«, spornte Bonne seinen Bruder an. »Gleich hab ich sie.«
Milo machte die Arme lang, streckte die Beine vor und legte sein ganzes Gewicht hinein.
»Hab sie«, grölte Bonne und schlang die Beine schnell um eine alte knorrige Wurzel, um den Halt nicht zu verlieren. Die beiden Brüder klammerten sich an das Geflecht aus Luftwurzeln wie zwei Seeleute in die Takelage eines Schiffes.
»Gleich unter dir ist ein Vorsprung, wo wir sicher stehen können«, verriet Bonne.
Milo tastete sich mit den Füßen vorwärts und fand das winzige Plateau. Jeder Schritt war ein Wagnis, jeder Griff nach einer Wurzel die Rettung vor dem sicheren Tod.
Einen Moment später standen die Halblingsbrüder mit dem Rücken zur Felswand auf dem schmalen Absatz und starrten auf das sanft baumelnde Seil zehn Fuß vor ihnen. Das nun unerreichbare Seil, das Bonne beim Abstieg auf das Plateau losgelassen hatte.
»Das war dein Seil«, stöhnte Milo. »Du hättest darauf aufpassen müssen.«
»Aber du hast es dir ausgeliehen«, antwortete Bonne.
Einige Minuten vergingen, bis Milo das bedrückende Schweigen brach.
»Wo ist die Stelle, wo du den Pilz gefunden hast?«
»Wir stehen drauf«, antwortete sein Bruder. »Und bevor du fragst, nein, ich kann keinen Schritt zur Seite gehen.«
Milo senkte den Blick vorsichtig, das Kinn auf die Brust gepresst. Genau zwischen seinen Füßen lag eine kleine Mulde, die von Form und Größe zu der Schieferplatte in seinem Beutel passte. Angrenzend zu der Mulde lag weiteres Schiefergestein halb unter Moos und Flechten verborgen, aber angeordnet wie ein Mosaik.
Bedächtig zog Milo den Stein aus seinem Beutel, drehte ihn in der Hand, bis er die richtige Position gefunden hatte, und ging langsam in die Hocke.
Bonne wollte seinen Bruder gerade zur Vorsicht ermahnen, als er sah, dass Milo langsam nach vorn kippte.
Anstatt den Stein fallen zu lassen und nach einer Wurzel zu greifen, um den tödlichen Sturz abzuwenden, rief Milo: »Bonne, hilf mir!«
Bonne reagierte sofort. Eine Hand klammerte sich an das Wurzelgeflecht in seinem Rücken, die andere packte den dunkelbraunen lockigen Haarschopf des Bruders. Es gab Situationen, in denen man sich nicht aussuchen konnte, wie man etwas tat, ob man es besser hätte tun können oder wenigstens mit etwas mehr Rücksicht – dies war so ein Moment.
Bonne riss Milo zurück. Er spürte, wie sich etliche Haarbüschel von der Kopfhaut des Bruders verabschiedeten, aber die meisten hielten der Belastung stand.
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