Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
abzulenken. »Es mag sein, dass ich in Torowinns Unterricht nicht aufgepasst habe, aber noch niemals zuvor habe ich von Moorelfen gehört.«
»Nur wenige wissen von uns«, bestätigte Raliána leise. »Unsere Verwandten, die Waldelfen, und auch die der Ebenen schämen sich für uns.«
»Weshalb denn?«
Sie hob ihre schmalen Schultern. »Wir erschaffen weder kunstvolle Bauwerke noch legen wir Wert auf edle Gewandungen, wertvollen Schmuck oder die hohe Kunst des Dichtens. Wir leben hier in den Sümpfen unser eigenes freies Leben.« Aus diesen Worten sprach sehr viel Stolz, ihre Augen funkelten, die Schultern waren gestrafft, das Kinn erhoben. Aber dann biss sie sich auf ihre Lippe. »Unsere Verwandten schämen sich unseres Anblicks, weil wir nicht so schön und anmutig sind wie sie.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst«, seufzte Dimdur schwer. »Die anderen Zwerge schämen sich meiner ebenfalls.« Verlegen fuhr er sich über seinen angeklebten Bart.
»Zwerge?« Sichtlich verwirrt zog Raliána ihre Stirn kraus.
»Ja, mein Vater, mein Bruder, und ganz besonders meine Großtante Frengata.«
»Was hast du mit Zwergen zu schaffen?«
»Welch seltsame Frage, sie sind meine Familie.«
Jetzt schien die Moorelfe die Welt nicht mehr zu verstehen. Sie beugte sich zu Dimdur vor. »Noch niemals zuvor habe ich gehört, dass ein Halbling unter Zwergen lebt.«
»Was soll denn ein Halbling sein?«
Ein leises, kehliges Lachen entstieg ihrer Kehle. »Na, du selbstverständlich!«
»Ich bin ein Zwerg!«, empörte sich Dimdur.
Zunächst setzte Raliána zu einer Entgegnung an, aber dann stutzte sie. »Du glaubst das wirklich, nicht wahr?«
Dimdur nickte bestätigend, und sie schüttelte den Kopf, dann zog sie ihn auf die Beine. »Du bist kleiner als ein Zwerg, schmächtiger, und dieses eigentümliche Gestrüpp, das du dir offenbar auf die Wangen und das Kinn geklebt hast, kann auch nicht über deine wahre Herkunft hinwegtäuschen.« Sie goss ihm ihren Wasserbeutel über die Füße, was Dimdur empört aufquietschen ließ. »Sieh nur deine breiten, bepelzten Füße. Hast du die jemals bei einem Zwerg gesehen?«
»Nein«, räumte er ein. Auch wenn er Raliána in gewissen Dingen Recht geben musste, weigerte sich sein Inneres, ihr Glauben zu schenken. »Aber es gibt keine Halblinge . Ich habe noch niemals von ihnen gehört!«
»Auch von uns Moorelfen hast du nichts gewusst, und trotzdem stehe ich vor dir.« Ein triumphierendes Grinsen stand auf ihrem schmalen Gesicht.
»Wahrscheinlich bist du ein Moorgeist, der mich zum Narren halten will«, grollte er und schickte sich dazu an, zu gehen. Doch Raliánas schlanke Hand hielt ihn fest, und plötzlich war ihre Stimme weich.
»Warte. Du hast dir diese Haare doch nur ins Gesicht geklebt, um wie deine Verwandten auszusehen, nicht wahr? Bestimmt hast du dich auch schon häufig gewundert, weshalb du so ganz anders bist als sie.«
Mit offenem Mund starrte er sie an. »Ähm – ja, schon.«
Sie strich über seine Wange. »Möchtest du nicht sehen, wie deinesgleichen lebt?«
»Also, du meinst …« Dimdurs Gedanken überschlugen sich.
»Haben dir deine Eltern weisgemacht, du seiest von ihrem Blute?«
»Nein, ich wusste immer, dass ich ein Findelkind bin.«
»Na siehst du.« Sichtlich erleichtert lächelte Raliána ihn an. »Sie wollten dir nichts Böses, vermutlich hat man dich gefunden und für einen schmächtigen Zwergensäugling gehalten. Bis zu einem gewissen Alter ähnelt ihr euch durchaus.« Sie strich ihm über die Haare. »Ich denke, auch deine Zieheltern haben keine Ahnung, dass es Halblinge gibt. Sie leben sehr zurückgezogen, einige Tagesmärsche von diesem Ort entfernt hinter unserem Moor, welches sich kaum jemand zu durchqueren traut.«
»Und du willst sie mir zeigen, diese Halblinge?«, stieß Dimdur hervor.
»Wenn du das möchtest.«
Wie hypnotisiert sah er zu der Elfe auf, dann nickte er. War das vielleicht aller Rätsel Lösung, der Grund, weshalb er sich so völlig von den übrigen Zwergen unterschied? Dimdur wollte es noch immer nicht so richtig glauben, aber was konnte es schon schaden, sich diese Halblinge anzusehen.
»Also gut, lass uns aufbrechen«, sagte er unternehmungslustig.
Raliána legte ihren Kopf schief. »Wir sollten dieses grausige Gestrüpp von deinem Gesicht entfernen. Was ist das eigentlich?«
»Pferdehaar«, antwortete er kaum hörbar.
»Doch nicht etwa …?« Raliánas Augen weiteten sich, und als Dimdur kleinlaut nickte, brach sie in
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