Große Kinder
Rücksichtnahme und Skrupellosigkeit, wie Verächtlichkeit und Bewunderung, wie Rache und Vergebung.
Die Bücher und Filme, die sie spannend finden, drehen sich fast immer um die Frage, was anständigess, faires und soziales Verhalten (und das Gegenteil davon) ist. Wenn sie Erwachsene beobachten (und das tun sie fast immer, wenn Erwachsene anwesend sind), wenn sie mit ihnen reden, arbeiten oder sie ärgern, geht es sehr oft darum, herauszufinden, wie sich Erwachsene im Umgang mit anderen Erwachsenen, Kindern und Tieren verhalten. Kinder sind außerordentlich empfindsam für die innere Haltung der Erwachsenen. Schon am Ton, mit dem Erwachsene über andere sprechen, bekommen Kinder untrüglich mit, welche Einstellung hinter ihren Worten steht: Wenn die Mutter über ihre Kollegin herzieht, spüren die Kinder, dass in ihren Worten Verächtlichkeit, Hochmut, aber auch Selbstbewusstsein mitschwingen. An der Art, wie ein Vater oder Lehrer über Ausländer redet, lernen Kinder, wie man als Erwachsener wohl über Ausländer zu denken »hat«.
Wie genau Kinder die innere Haltung von Erwachsenen erfassen und wie sie Erwachsene nach ihrem sozialen Verhalten einordnen, ist in vielen Lebenserinnerungen nachzulesen (aber auch jeder von uns erinnert sich an die eigenen »Nett-« und »Blöd-«Schubladen, in die wir als Kinder Erwachsene einsortiert haben).
Hier zwei Beispiele von Wladimir Lindenberg, der in einer russischen Adelsfamilie aufgewachsen ist, in der Gäste eine große Rolle spielten. Er war ungefähr 8 Jahre alt, als er folgende Beobachtungen machte:
Und da waren Bobiks liebste Gäste ... die nichts anderes waren als Kinder, die zufällig groß geworden waren. Sie brachten eine Atmosphäre von warmer Freundlichkeit mit ... Sie gingen auch zuerst zu dem Hundezwinger und sprachen mit den Tieren ... es war einfach herrlich, mit diesen großen Kindern zu spielen.
Das waren die einzigen Gäste, die »natürlich« waren, die nicht redeten wie die Papageie, die zuhörten, die freundlich blieben, auch wenn sie mit den anderen nicht einer Meinung waren, die nicht zankten und nicht versuchten, die anderen zu überschreien.
(Lindenberg, S. 96 f.)
Dagegen die Beobachtung dieser Dame:
Die häßliche Kutusowa hatte offenbar jemanden zwischen ihren Zähnen, man fühlte es förmlich, wie sie seine Person, seine Ehre, seine intimen Verhältnisse zerbiß und zerkaute. Alle hatten Angst vor ihr, und man hörte ihr aufmerksam und devot zu, um sich in gutes Licht bei ihr zu stellen. Das nutzte absolut nichts, sobald sie sich umdrehte und einem anderen zuwandte, klatschte sie bereits über den Vorgänger. Onkel Iwan sagte zu Bobik: »Solche Leute hat man früher verbrannt.« Das fand Bobik großartig. Wie schade, daß man es jetzt nicht mehr tat.
(Ebd., S. 155)
An diesen Zitaten wird deutlich, dass Kinder sich in ihrer moralischen Bewertung zum einen an dem orientieren, was sie selbst fühlen, dass sie zum anderen aber auch absolut offen und naiv dem zustimmen, was ein Erwachsener, den sie lieben und verehren, äußert.
Wenn Kinder Erwachsene beobachten und bewerten, orientieren sie sich an einem erstaunlich sicheren inneren Kompass, der ihnen anzeigt, was »richtiges«, menschliches Verhalten ist. (Ihr eigenes Verhalten können Kinder altersbedingt dagegen noch nicht so gut bewerten und beurteilen.) All das Schlechte, Unmoralische, Verletzende, Unmenschliche, Verächtliche, Rücksichtslose und Egoistische, was Kinder in der Erwachsenenwelt beobachten, bringt die innere Kompassnadel allerdings immer wieder heftig ins Rotieren. Wenn man aber zumersten Mal in ein unbekanntes Gelände vordringt, muss man seine Kompassnadel fest auf Kurs halten, damit man sich nicht verirrt. Wenn man loszieht, um das verwirrende Gelände der sozialen Regeln und moralischen Werte überhaupt erst kennen zu lernen, braucht man zunächst klare, einfache und eindeutige Hinweise, die zeigen, wo’s langgeht: Man muss sich an den beiden Polen »gut« und »böse« orientieren können.
Daher rührt die große Vorliebe der Kinder für Geschichten, in denen das Gute über das Böse siegt und in denen die Helden die moralischen Grundwerte ohne Wenn und Aber durchhalten. Ob Old Shatterhand oder Superman: Das Strickmuster ist schlicht und einfach, und es zeigt den Kindern: So ist es richtig, da geht es lang.
In der heutigen Vielfalt der Medien sind diese Grundmuster immer noch zu finden. Aber bei der Menge an Negativem, was da
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