Große Kinder
Dimension von Gefühlen öffnet: Begeisterung, Verliebtsein, Verehrung, Sehnsucht, Kummer, Trauer, Empörung, Hass können jüngere Kinder noch nicht annähernd in der Tiefe und Intensität empfinden wie große Kinder. Die Phantasiebeziehung zu den Idolen gibt den Kindern Raum, ihre Gefühle sozusagen »ohne Gewähr« und »auf Probe« ausleben zu können. Weil die Kinder keine reale Beziehung zu ihren Idolen (und deren Gegenspielern) haben, können sie sich bis an die Grenze des Erträglichen in ihre Gefühle hineinsteigern, ohne jemandem zu nahe zu treten. Hysterische Begeisterung und Liebessehnsucht bis hin zur Ohnmacht bei den Konzertbesuchen der Mädchen und Empörung bis zum Ausrasten über den falschen Elfmeter bei den Jungen sind hier nur zwei Beispiele. Allmählich lernen die Kinder mit diesen Gefühlen umzugehen und sie zu zügeln.
Wer als Kind gelernt hat, Gefühle zuzulassen, sie aber auch zu beherrschen, der hat eine wichtige Grundlage, um als Erwachsener zu einer ausgeglichenen, offenen und begeisterungsfähigen Persönlichkeit zu werden.
Anmerkung
Seit Mitte der 90er-Jahre beschäftigen sich Fachleute aus Stadtplanung, Pädagogik, Sozialarbeit und Sozialwissenschaft, Medizin, Psychologie und Verwaltung mit der Frage, wie Kindern und Jugendlichen wieder mehr Kontakt zu Erwachsenen vermittelt werden kann, die
nicht
durch familiäre oder pädagogische Bindungen verpflichtet sind. Aus einem interdisziplinären Werkstattgespräch ging 1995 die »Tübinger Erklärung« hervor, in der es unter anderem heißt:
Kinder und Jugendliche brauchen neben Schule und Familie den leichten Zugang zur Wirklichkeit eines lebendigen Stadtquartiers, in dem sie Formen des Zusammenlebens unter Menschen, die sich nicht gegenseitig verpflichtet sind, erfahren und auch selbst erproben ...
Spielstraßen, Kinderhäuser, Schulen und Jugendtreffs sind ohne Anschluß an die Welt des Arbeitens und Wirtschaftens nicht in der Lage, die Neugier, die Lust der Selbstdarstellung und die Freude am eigenen Tätigsein zu befriedigen ... Notwendig ist eine Verbindung zwischen Wohnen, autofreien Plätzen, kleinen wirtschaftlichen Betrieben und Straßen mit nicht bedrohlichem Verkehr.
(Tübinger Erklärung »Kinder brauchen Stadt«; vgl. auch die im Literaturverzeichnis genannte Veröffentlichung von Gabriele Steffen.)
Ich spüre das Leben in mir!
Die Entwicklung der Gefühle
D ieser Ausruf »Ich spüre das Leben in mir!« aus Astrid Lindgrens
Madita und Pims
ist wie ein Leitsatz für das Leben der großen Kinder. Leben ist fühlen.
Kinder, die die Möglichkeit haben, nutzen in diesem Alter jede Gelegenheit, die sie umgebende Welt in all ihren Fassetten sinnlich zu erleben. Ihre Suche nach Abenteuern und Erlebnissen ist in Wirklichkeit die Suche nach Gefühlen. Denn jedes Gefühl ist Ausdruck des eigenen inneren Lebens, des weiten emotionalen Horizonts, den man in sich trägt. Jedes Gefühl ist die wundervolle Bestätigung, ein einzigartiger, pulsierend-lebendiger Mensch zu sein. Jedes Erlebnis, mit allen Sinnen aufgenommen, erweckt in diesem Alter ganz tiefe, unverwechselbare, manchmal bekannte, oft ganz neue, jedenfalls durch und durch einzigartige Gefühle.
Bei kleinen Kindern lösen bestimmte Personen, Dinge und Ereignisse allgemeine, oft sehr intensive Gefühle aus: der Lieblingspullover, der am liebsten Tag und Nacht anbehalten werden will, der eklige Spinat, die allerliebste Erzieherin, das Furcht erregende Bild des Bösewichts, die Geborgenheit des Gutenachtrituals. Erst Jugendliche sind so weit gereift, dass sie »Stimmungen« bewusst erfassen können: die Laune des Freundes, das Brodeln eines Konflikts, die Atmosphäre in der Disko, die Schönheit einer Landschaft, die Stimmung eines Gedichts.
»Große« Kinder dagegen erleben am intensivsten Gefühle, wenn »etwas los« ist, also in Situationen, in denen etwas geschieht und in denen sie selbst aktiv dabei sind. Und unbewusst suchen sie bei allem, was sie erleben und tun, nach den dazugehörenden Gefühlsreaktionen, den eigenen und denen der anderen.
Wenn ein kleines Kind zum Beispiel einen Stock ins Feuer halten darf, dann reagiert es darauf entweder mit Angst und wendet sich ab, oder es nimmt unbekümmert den Stock und hält ihn selbstverständlich ins Feuer. Es findet die Situation einfach schön oder unangenehm, mehr nicht. Große Kinder dagegen sind »Feuer und Flamme«. Sie fuchteln mit dem glühenden Stock herum und »spielen mit dem Feuer«, indem sie
Weitere Kostenlose Bücher