Große Kinder
mit dem Gefühl Angst jonglieren: Da sie sich der Gefährlichkeit der Situation durchaus bewusst sind, haben sie im Grunde Angst. Aber diese Angst können sie überwinden. Das wiederum ist aufregend und macht Spaß, und man fühlt sich stolz, weil man es schafft, nicht ängstlich zu sein. Gleichzeitig spielen Kinder in solchen Situationen mit den Gefühlen der anderen: Wie reagiert die Schwester, wenn ich ihr mit dem Stock vor der Nase herumfuchtle, findet sie das lustig oder macht ihr das Angst? Wie sehr? Was sagt Mama dazu? Lasse ich mich von ihrer Sorge und ihrem Ärger gegen mich beeindrucken oder fühle ich mich groß und stark und souverän, um trotzdem weiterzumachen? Oder begnüge ich mich damit, Muster in die schwarze Luft zu malen: Guck mal, wie toll das aussieht! Echt cool!
Noch ist nicht genau erforscht, welche Bedeutung das unmittelbare sinnliche Erleben der ganzen Bandbreite von möglichen Gefühlen in der mittleren Kindheit für die Entwicklung der Persönlichkeit hat. Viele Kindheitserinnerungen und die Beobachtung von Kindern, die in einer Welt aufwachsen, dieihre freie emotionale Entwicklung fördert, sprechen aber dafür, dass sich im Alter zwischen 7 und 13 Jahren entscheidet, wie emotional reich und differenziert oder wie gefühlsmäßig arm, oberflächlich und einseitig ein Mensch wird.
Wenn mir Erwachsene, Männer wie Frauen, von ihrer Kindheit erzählen, beobachte ich regelmäßig folgendes Phänomen: Sobald sie auf ihre, fernab von Erwachsenen erlebten Kindheitserlebnisse mit dem Freund oder der Clique zu sprechen kommen, erwachen sie förmlich zu sprühendem Leben! Da bleibt keiner zurückgelehnt im Sessel sitzen: Die Körperhaltung richtet sich auf, wird aktiv und erzählt allein schon ganze Geschichten von Glücksgefühlen und Hochstimmungen – und manchmal auch von Gewissensbissen, Beklommenheit und Enttäuschungen. Die Hände beginnen zu sprechen, meistens werden die Wangen rot und aus den Augen funkeln Feuerwerke von Gefühlen: Alte, tiefe, intensive Emotionen werden wach und – größtenteils – offenbar mit großem Vergnügen wieder erlebt. Auch die niedergeschriebenen Lebenserinnerungen spiegeln sehr oft die lebendige Intensität und die bunte Vielfalt der Gefühle, die in den Spielen und Abenteuern mit anderen Kindern weitab von Erwachsenen – oder gezielt gegen sie – in dieser Lebensphase erlebt wurden.
Offenkundig ist mit das Tiefste und Prägendste, was aus der Zeit einer erlebten, unabhängigen Banden- und Abenteuerkindheit bleibt, der Gewinn eines ganz persönlichen Repertoires von Gefühlen. Je mehr aufregende, spannende, fröhliche, beängstigende, ermutigende, traurige, tröstliche, niederschmetternde, erhebende, eklige, wonnevolle, gruselige, feierliche, wundersame, ehrfurchtsvolle Erlebnisse man »live« in dieser Zeit der Kindheit gehabt hat, umso reicher ist offenbar der Gefühlsschatz, den man sein Leben lang in sich trägt und als innere Lebendigkeit später einmal ausstrahlen wird. (Unddie Computer- und Fernseh-Kids werden sich eines Tages nach dieser verpassten Lebensqualität sehnen, genauso wie ein Mensch, der nie ein Elternhaus kennen gelernt hat, sich ein Leben lang im Innersten nach häuslicher Geborgenheit sehnt.)
Wie es scheint, sind wir im Alter zwischen etwa 7 und 13 Jahren besonders empfänglich und fähig, grundlegende Lebensgefühle in ihrer ganzen Farbigkeit und in ihrer unterschiedlichen Intensität zu empfinden. Im Jugendalter ist es dafür zu spät, da hat das Spiel mit einem brennenden Stock keinen Reiz mehr. Das emotionale Loch aber schmerzt unbewusst ein Leben lang weiter, und die älter, aber nicht reifer gewordenen Menschen suchen vergeblich mit allen Mitteln, diese Leere zu füllen.
Emotionale Fähigkeiten kann man nicht »trainieren«, sie müssen beizeiten zum Leben erweckt, gepflegt und unterstützt werden. Darüber haben wir uns, zumindest was die Kinder im Schulalter betrifft, bisher noch zu wenig Gedanken gemacht.
In ihren Phantasien und Spielen, in ihrem Miteinander und Gegeneinander, in ihren Erkundungszügen, in allem, was sie planen und tun, »sammeln« Kinder, die natürlich aufwachsen können, neben praktischen Lebenserfahrungen vor allem auch Gefühle. In die Rolle eines anderen Menschen zu schlüpfen, bedeutet zum Beispiel, sich in erster Linie, gefühlsmäßig in eine andere Grundstimmung zu versetzen: Spielt man den grimmigen Hausmeister, muss man selbst grimmig-ärgerlich sein; spielt man die
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