Große Kinder
hysterische Tante, muss man selbst in die obere Tonleiter der Aufregung greifen, sonst stimmt die Stimme nicht; spielt man das widerspenstige Kind, muss man seinen abgelegten Trotz wieder aufleben lassen; spielt man den eitlen, gefeierten Star, wird man selbst innerlich abheben und vor Stolz platzen ...
Ein Kind in diesem Alter spielt nicht, es wäre ..., nein, es
ist
durch und durch die Person, in dessen Rolle es geschlüpft ist. Günter de Bruyn erinnert sich an die Gefühle, wenn er mit seinem Freund Hannes »Winnetou und Old Shatterhand« spielte:
Denn
Winnetou
hatte ich nämlich nicht nur wieder und wieder gelesen, ich hatte ihn auch in endlosen Wiederholungen gespielt. Ich
war
der edle Apache mit dem leichten Bronzehauch auf der Haut,
mir
fiel das blauschwarz glänzende Haar über die Schultern, ich spürte ein schnelles Pferd unter mir, wenn ich über die Prärien jagte ... Auch Hannes, alias Old Shatterhand, ein Bleichgesicht und trotzdem Freund des Roten Mannes, mußte reden; der jeweils Nichtredende mußte das erstaunte Uff! Uff! und das zustimmende Howg! des indianischen Volkes intonieren; und das alles mußte ganz ernst geschehen; denn mit der leisesten Heiterkeit oder gar Albernheit war der Zauber dahin.
(Bruyn, S. 97 ff.)
Kinder schlüpfen am liebsten in die Rolle von starken, unbesiegbaren, kompetenten, erfolgreichen, bewunderten, gefeierten Erwachsenen. Während sie diese Rollen spielen, fühlen sie sich selbst stark und kompetent, sie spüren ihre Kraft zum Leben und erfahren, dass sie es, wenn auch erst als Erwachsene, mit dem Leben aufnehmen können.
Kinder spielen auch Gefühle durch, die für sie selbst eigentlich Furcht erregend sind – das Gefühl von Grausamkeit und Niedertracht zum Beispiel. Der Dubliner Roddy Doyle beschreibt das in einer winzigen Szene:
Auf den Straßen war Beton, und zwischen dem Beton war Teer, der war so hart, daß man ihn meistens gar nicht sah, aber
blubberig war er toll. Oben war er alt und grau wie die Haut, die ein Elefant um die Augen hat, aber wenn man ihn mit dem Hölzchen anstach, war darunter frischer Teer, schwarz und weich wie ein Sahnebonbon, das du schon mal im Mund gehabt hast. Du stichst in den Blubber, und darunter ist der saubere weiche Teer. Ein Vulkan. In den Krater stößt du Kiesel; ein qualvoller Tod.
(Doyle, S. 128)
In solchen Spielen bewältigen Kinder wenigstens teilweise die seelischen Belastungen, die ihnen aus der Erwachsenenwelt aufgebürdet werden. Dieses Phänomen wird in der Spieltherapie aufgegriffen. Wenn man mit Kindern spieltherapeutisch arbeitet, erfährt man unmittelbar, wie heilsam phantasievolles Spielen für verwundete kindliche Seelen ist und wie direkt Kinder im selbst erfundenen Spiel das bearbeiten, was sie belastet.
Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass Kinder, die spielen, dass sie selbst böse und schrecklich sind, mit den dunklen Seiten ihrer Eltern (und denen anderer Erwachsenen, mit denen sie zuweilen zu tun haben) besser fertig werden. Leider »vergessen« Kinder im Spiel manchmal, ob ihr Spielpartner »in echt« lebt und leidet, oder ob es sich, wie bei dem Kieselstein, um ein Ersatzobjekt handelt. Wenn ein Kind selbstvergessen im Spiel einem Spielkameraden wehtut, müssen andere Kinder oder Erwachsene das »böse« Kind wachrütteln und allen Kindern gemeinsam deutlich machen, dass da unversehens eine empfindliche Grenze überschritten worden ist. In der Regel erschrecken die Kinder selbst darüber, dass sie sich zu etwas haben hinreißen lassen, was sie nicht wollten, und versuchen in Zukunft behutsamer mit ihren Kameraden umzugehen.
Kinder, die mit leblosen Gegenständen ihr »Bösesein« ausspielen können, werden deshalb keineswegs zu »bösen« Erwachsenen!Im Gegenteil: Aus der Erwachsenentherapie weiß man, dass Menschen, die im Spiel als Kinder nie so richtig »böse«, »bedrohlich«, »niederträchtig« und »gefährlich« sein konnten (oder durften), später oft unter emotionalen Hemmungen und Komplexen leiden.
Freies Spiel von Kindern außerhalb der Reichweite von Erwachsenen hat also auch eine vorbeugende und therapeutische Wirkung gegen seelische Auffälligkeiten und Verhaltensstörungen.
Eine der wichtigsten selbst gestellten Aufgaben im Umgang mit Gefühlen ist in diesem Alter die Auseinandersetzung mit der eigenen Angst. Viele Abenteuer tragen, versteckt oder offen, die Herausforderung von Angst in sich: Unheimliches, Gefährliches, und Kämpfe
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