Große Kinder

gesunde Lebensweise und darauf, dass im Alltag alles seinen organisierten Gang ging. Sie waren froh, dass Florian gut in der Schule war und er ihnen auch sonst keinen Kummer bereitete.
    Als er 8 war, irritierte er seine Eltern allerdings zunehmend: Jeden Besucher, der sich eine Zigarette ansteckte, klärte ereindringlich über die Gefahren des Rauchens auf. Als bei der Geburtstagsparty seines Freundes die Kinder jede Menge Bonbons bekamen, gab er zu bedenken, dass Süßigkeiten schlecht für die Zähne seien. Beim Autofahren achtete er peinlich darauf, dass der Fahrer nicht etwa bei Gelb über die Ampel fuhr. Den ganzen Tag fragte er die Erwachsenen, was erlaubt sei und was verboten, was richtig und was falsch: Dürfen am Tag die Scheinwerfer am Auto eingeschaltet sein? Dürfen Eltern ihren Kindern erlauben, überhaupt nicht in die Schule zu gehen? Darf man Zigarettenkippen auf den Gehweg werfen?
    Es wurde den Eltern zunehmend unangenehm und oft genug auch außerordentlich peinlich, dass sich das Interesse ihres Sohnes nur noch darauf zu konzentrieren schien, den Erwachsenen einen Spiegel vorzuhalten und ihnen zu zeigen, wo sie anders handelten, als zumindest Florian es von ihnen erwartete. Als Eltern der 68er-Generation sahen sie voll Grauen ihren Sohn schon als den bürokratischsten aller Verwaltungsrichter im angestaubten Talar kleinkariert Recht sprechen.
    Inzwischen ist Florian längst erwachsen   – und nicht Jurist geworden. Er raucht zwar nicht, isst aber mit Vergnügen Weißbrot und leidenschaftlich gern Gummibärchen. Er trinkt mit Freunden sein Bierchen, riskiert den Strafzettel beim Falschparken, ärgert sich über engstirnige Bürokratie und ist ein durchweg toleranter und normaler junger Mann geworden   – nur in manchen Bereichen ist er etwas pedantisch geblieben.
     
    Sven und Markus dagegen missachteten alle Anstandsregeln gezielt   – was man in diesem Fall durchaus wörtlich nehmen darf: Sie pinkelten vom Balkon herunter und probierten dabei nicht nur aus, wer weiter konnte   ...
     
    Lydia und Petra mussten sich, mangels naturgegebener »Wasserpistolen«, etwas anderes überlegen. Zuerst versuchten sie es mit spucken. Die Zielgenauigkeit ließ aber sehr zu wünschen übrig (der kleinste Luftzug ist mächtiger als das genaueste Zielen), außerdem bekommt man ziemlich schnell einen unangenehm trockenen Mund. Also gingen die beiden zu Schimpfwörtern und Beleidigungen über, die sie aus dem Fenster brüllten. Als das keinen Spaß mehr machte, weil sich die Passanten entweder nicht darüber aufregten oder so empört waren, dass sie drohten, den Eltern Bescheid zu sagen, wählten sie eine anonymere und direktere Form: Sie riefen irgendwelche Leute an und beleidigten diese am Telefon. Sehr bald wechselten sie dann zu den nun keineswegs mehr zufällig gewählten Nummern der Klassenkameraden, bevorzugt der Jungen, und damit änderte sich auch der Inhalt der anonymen Botschaften. Es waren ihre ersten Intrigen, indem sie gezielt   – meistens frei erfundene   – Mitteilungen über Liebschaften und Hassgefühle zwischen den Klassenkameraden verbreiteten   ...
     
    Im Alter zwischen 8 und 10 gärt es. Der Mensch befindet sich, ähnlich wie im Alter von etwa 15   Jahren oder während des Trotzalters, in einem inneren Um- und Ausbau, der vielleicht unter Erwachsenen nicht so bekannt, aber für die Entwicklung des Kindes enorm wichtig ist: Die äußeren und inneren Lebensgrenzen müssen neu bestimmt und die innere Ordnung muss neu gefunden werden.
    Während eines Um- und Ausbaus herrscht Chaos: Nichts ist am gewohnten Platz, alles ist durcheinander, provisorisch. Aber trotz der Strapazen, die man aushalten muss, ist die Zeit des Umbaus gleichzeitig voller Verheißung, voller Vorfreude, voller Visionen einer neu geordneten, den neuen Bedürfnissen angepassten Lebenswelt. Das ist ungefähr die Grundstimmung,die jedes Kind mehr oder weniger ausgeprägt irgendwann in der Zeit zwischen dem 7. und 10.   Geburtstag, meistens im Alter zwischen 8 und 9   Jahren durchlebt.
    Rudolf Steiner beschrieb das 9.   Lebensjahr als die Zeit der »Rubikon-Überschreitung«. Der Rubikon war im Römischen Reich ein bedeutsamer Grenzfluss. Unter Missachtung jahrhundertealter Gesetze und Regeln überschritt Cäsar eines Tages mit seinen Truppen diesen Fluss und löste damit einen Bürgerkrieg, eine Revolution, einen Prozess staatlicher Umformung aus.
    Verbotenes
    Kein Zweifel: Dieses Bild trifft zumindest teilweise die