Große Kinder
auf der Welt so sind, wie sie sind, sie gehen den Dingen, wenn sie können, auf den Grund – und daher wohl auch ihre Fähigkeit und ihr Bedürfnis, zu »Experten« zu werden.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Themen, die mit starken Gefühlen besetzt sind, wäre dagegen noch eine Überforderung (ist das aber nicht auch noch bei vielen Erwachsenen so?): Im Deutschaufsatz beispielsweise eine kritische Analyse der Inhalte von
Bravo
oder
Mädchen
zu fordern oder die Frage, was denn an den Spice Girls so wundervoll ist oder an »Schumi« so toll, wäre nur töricht, um nicht zu sagen, gemein. (Solche Auseinandersetzungen wären Thema fürs Jugendalter – und werden dort oft zu wenig gepflegt und geschult.)
Die aufkommende Fähigkeit, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen, hat für Zwölfjährige auch eine ausgesprochenkomische Seite: Sie sehen Menschen und Situationen plötzlich aus einer Sicht, die für sie zum Schieflachen ist: das Hinterteil der Lehrerin, der umgeschlagene Hemdkragen des Lehrers, die Vorstellung, auf Stöckelschuhen in die Schule zu kommen usw. Deshalb sind Albern und Kichern Markenzeichen vor allem der zwölfjährigen Mädchen.
Kinder ab etwa 12 Jahren verstehen zum Beispiel auch plötzlich, was an Filmszenen oder Witzen, in denen menschliche Eigenschaften aufs Korn genommen werden, komisch ist. So kursieren unter Zwölfjährigen die von Generation zu Generation wechselnden Witze, die sich über bestimmte Menschen lustig machen: Schottenwitze, Mantafahrerwitze, Blondinenwitze.
Zwölfjährige entdecken Ironie und probieren sie – zuweilen noch sehr ungeschickt und taktlos – aus. Die Begrüßung »He, du Volltrottel!« kann als freundschaftlicher Witz gemeint sein, aber voll danebengehen, weil das andere Kind die beabsichtigte Ironie überhaupt nicht mitbekommt. Deshalb gibt es auch so viele Missverständnisse mit Zwölfjährigen, die andere (auch Erwachsene) beleidigen und hinterher sagen, es wäre ja bloß ein Spaß gewesen.
Die neue Fähigkeit, die Dinge der Welt aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen, spiegelt sich also auch in einer neuen Form, den Menschen zu begegnen.
Der soziale Bereich
Die Beziehung zu den Erwachsenen
Eltern von Zwölfjährigen und Lehrer von 6., 7. Klassen berichten von einem veränderten Auftreten, einer neuen Art ihrer Schützlinge, »aus den Augen zu schauen«. Viele Zwölfjährige gehen mit neuer Ausstrahlung auf die Erwachsenen zu, schauenihnen »erwachsener«, selbstbewusster, gerader in die Augen, auch wenn darin noch keine Opposition mitschwingt.
Auch wenn Zwölfjährige gelegentlich Dinge tun, für die sie wirklich noch »zu jung« sind, lehnen sie sich in der Regel nicht ernsthaft dagegen auf, wenn sie von Erwachsenen zur Ordnung gerufen oder ihnen die Grenzen aufgezeigt werden: Sie suchen oft geradezu diese Grenzklärung durch die Erwachsenen. Ein Zwölfjähriger, der sich mit einer Zigarette erwischen lässt, weiß genau, dass er etwas Verbotenes tut. Er »erwartet« vom Erwachsenen, dass er in seine Grenzen gewiesen wird (auch wenn er heimlich mit seinen Freunden weiterrauchen wird, um zu beweisen, wie »groß« er schon ist). Bei älteren Jugendlichen würde eine Zurechtweisung zu Hohngelächter führen und als Aufforderung verstanden werden, sich umso mehr gegen den Erwachsenen aufzulehnen.
Viele Frauen berichten, dass sie etwa im Alter von 11, 12 Jahren eine besondere Beziehung zu ihrem Vater entwickelt haben: Der Vater wurde plötzlich neu entdeckt und heiß geliebt – oder inbrünstig abgelehnt. (Diese emotionale Ablehnung der Zwölfjährigen ist in der Regel noch keine wirklich kritische Auseinandersetzung mit dem Vater oder der Mutter, wie sie dann mit etwa 13 Jahren an der Tagesordnung ist.) Manchmal kommt in diesem Alter auch nur die große Sehnsucht der Mädchen nach dem Vater zum Ausdruck, der gar nicht oder zu wenig da ist.
Wie dem auch sei: Der Vater scheint für Mädchen von etwa 12 Jahren jedenfalls besonders wichtig zu sein. Consuelo aus
Die Kinder von Sánchez
erzählt von der Abschlussfeier der 6. Klasse, als sie etwa 12 Jahre alt war:
Ich hatte meinen Vater darum gebeten, zur Schlußfeier zu kommen, aber er erschien nicht. Ich stand die ganze Zeit am
Treppengeländer, um zu sehen, ob er da war ... Manche Väter kamen in ihrer Arbeitskleidung, aber sie waren wenigstens bei ihren Töchtern. Ich wünschte sehnlich, ich könnte meinen Vater herbeizaubern!
(Consuelo in:
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