Große Kinder
Jahren nämlich kann ein Kind die Dinge wieder ein Stückchen mehr »von außen« betrachten: Zwölfjährige würden zum Beispiel in einer Hütte nicht mehr Feuer machen, in dem Glauben, man könnte es notfalls mit einem Eimer Wasser löschen. Sie erkennen, dass das Dach Feuer fangen könnte und »sehen«, dass mit einem Eimer Wasser da nichts mehr zu retten wäre (aber dass Funkenflug oder ein unsichtbarer Schwelbrand unkontrollierte Brände auslösen können, das müssen auch Zwölfjährige noch gesagt bekommen).
Die neue Fähigkeit, Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen, macht sich zum Beispiel im Sport bemerkbar. Zwölfjährige Fußball-, Hockey-, Handball- oder Basketballspieler können zum ersten Mal richtig verstehen und nachvollziehen, weshalb in einer Mannschaft taktische Züge zwischen Spielern sinnvoll sind, die scheinbar nichts damit zu tun haben, aufs Tor oder den Korb zu spielen. Sie begreifen auch jetzt erst wirklich, warum jeder Spieler »seine« Position hat und beibehalten soll, auch wenn der Ball am anderen Ende des Spielfeldes ist.
Jüngere Kinder stürzen sich natürlicherweise noch alle gleichzeitig auf den Ball und jeder versucht, ein Tor zu schießen. Im besten Fall gehorchen sie nur einfach den Anweisungen des Trainers, da zu bleiben, wo er sie hingestellt hat, und dort brav darauf zu warten, dass sie angespielt werden. Erst etwa Zwölfjährige können den Spielablauf aus einer höheren Warte sehen und mitdenken und sich als Teil einer ganzen Mannschaft verstehen, die im übergreifenden Zusammenspiel
gemeinsam
ein Ziel verfolgt.
Ähnlich verhält es sich mit dem logischen Denken. Einen Satz wie: »Denke nie, du denkst, denn wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nicht, dann denkst du nur, du denkst«, finden die Kinder faszinierend, weil sie entdecken, dass sie ihn tatsächlich verstehen! Deshalb stehen Wortspiele, Denksportaufgaben und Knobeleien bei vielen Zwölfjährigen hoch im Kurs.
Aber viele Erwachsene vergessen, dass man abstraktes Denken ebenso wenig »beibringen« kann, wie man einem Kind befehlen kann zu wachsen. Dreisatzaufgaben zum Beispiel können Menschen erst erfassen, wenn sie gleichzeitig verschiedene Dinge im Kopf haben und gegeneinander austauschen und verwandeln können. Für jüngere Kinder ist die selbständige Lösung der folgenden Aufgabe normalerweise vollkommen unmöglich: Wenn der Trinkwasservorrat eines Bootes für 5 Menschen 10 Tage lang reicht, wie lange können dann 7 Leute zusammen wegfahren? Zwölfjährige versuchen die Lösung herauszubekommen, jüngere Kinder würden vermutlich ganz einfach dabei bleiben, dass die Fahrt 10 Tage dauern soll und dass dann eben nur 5 Leute mitfahren können.
Nun sind manche Kinder auch mit 12 oder 13 Jahren noch keine »Zwölfjährigen«, zumindest nicht in allen Pesönlichkeitsbereichen. Und so entstehen dann zum Beispiel die schrecklichen Mathematikdramen in der Schule, wie sie eine Psychologieprofessorin erlebt hat, die mir gestand, dass sie den Dreisatz nie begriffen habe, bis heute nicht! Dennoch hat sie als Wissenschaftlerin natürlich unzählige Male Dreisatzaufgaben gelöst. Offenbar war sie noch »zu jung« gewesen, als diese scheinbar so komplizierten Rechnungen in der Schule auf dem Lehrplan standen. Nicht nur der Körper, auch das Denken reift eben von ganz allein, wenn man ihm nur genug Zeit lässt und die richtige »Nahrung« gibt.
Zum »neuen Denken« der Zwölfjährigen gehört eine große Errungenschaft, die jetzt allmählich von den Kindern entdeckt und ausprobiert und mit 13 Jahren dann in vollem Umfang gegen die Erwachsenen eingesetzt wird (da gibt es in gewisser Weise Ähnlichkeiten zum »Schwindeln« der Fünfjährigen): Zwölfjährige beginnen
kritisch
zu denken. Das heißt, sie können sich selbst, aber auch die anderen Menschen und alle Vorgänge auf der Welt in Gedanken
von außen
anschauen, so als wären sie »gefilmt«, und, was wichtiger ist, Stellung beziehen.
Mit 12 Jahren (bitte immer: ungefähr!!) erkennen sie bei den Lehrern die Schwächen
und
Stärken und wägen sie gegeneinander ab – und zwar nicht mehr wie bei manchen Jüngeren als Nachgeplapper der elterlichen Reden. Zwölfjährige erkennen, warum für sie die eine Freundin angenehmer ist als die andere, und sie beginnen auch zu verstehen, dass die »doofe« Klassenkameradin vielleicht nichts dafür kann, dass sie so »doof« ist. Sie fangen an, nach Gründen zu forschen, weshalb die Dinge
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