Großer-Tiger und Christian
Ohnezehen bedächtig, aber da er schon einmal beim Fragen war, wollte er alles wissen. »Mondschein hat mir
erzählt«, sagte er, »man habe euch einen Wagen gestohlen, der von selber geht. Wie ist es damit?«
»Wir haben ihn bloß ausgeliehen«, behauptete Großer-Tiger, »in Hsing-Hsing-Hsia oder vielleicht schon vorher kriegen wir ihn
wieder, und dann sollt Ihr mit uns fahren, verehrter alter Onkel. Ihr reist doch auch nach Sinkiang, war das nicht so?«
Ohnezehens Blick wurde böse. »Davon«, sagte er, »kann noch nicht gesprochen werden. Jetzt reiten wir.«
»Wohin?«, fragte Christian, »ich erdreiste mich, nach dem Weg zu fragen.«
»Weg gibt es keinen«, setzte ihm Ohnezehen auseinander, »der Verdeckte-Brunnen liegt von hier genau im Mittag. Die Mongolen
reiten durch die weglose Wüste, als ob sie auf der Seidenstraße ritten. Einmal habe ich es auch versucht, aber ich verirrte
mich, und ich musste froh sein, wieder nach Tschagan-Burgussun zurückzufinden. Seither mache ich einen Umweg. Seht ihr den
Berg dort im Westen?«
»Er ist sehr weit weg«, sagte Großer-Tiger, »aber wir sehen ihn.«
»Dorthin müssen wir«, erklärte Ohnezehen, »denn vom Fußdieses Berges aus erblickt man einen Sattel in der geraden Linie der Wüste, und daran erkenne ich, wohin ich mich wenden muss.
Man muss doch«, sagte Ohnezehen, »etwas haben, an das man sich halten kann.«
»Ich habe einen Kompass«, sagte Christian schüchtern.
»Ah!«, rief Ohnezehen erfreut, aber gleich nachher fragte er zweifelnd: »Verstehst du, damit umzugehen?«
»Mein Freund heißt Kompass-Berg«, erklärte Großer-Tiger stolz, »weil er das Höchstmaß von Kompass-Verständnis besitzt.«
»Wie konnte ich das vergessen!«, rief Ohnezehen, und er bat Christian, die Führung zu übernehmen. »Wir sparen durch deine
Gelehrsamkeit drei beschwerliche Stunden in tiefem Flugsand«, sagte er.
Christian schwieg, aber er nahm den Kompass aus der Tasche, und er warf auch einen Blick auf das Westliche-Blatt, das er lange
nicht mehr angeschaut hatte. Als er Tschagan-Burgussun darauf fand, war er froh. Ein blauer Kringel war da; das war das Wasser.
Man sah den braunen schraffierten Taleinschnitt, und sogar der Pfad der Nachdenklichkeit war eingezeichnet, auch wenn er bloß
punktiert war, weil er als unsicher galt. Bis dahin war alles gut. Nach Norden zu gab es Berge, und im Westen waren auch welche,
und der Pfad der Nachdenklichkeit lief über sie hin. Aber im Süden war auf der Karte alles weiß und gelb. Kein blauer Kringel
war gemalt, nur ein paar Berge, über denen weit auseinandergezogen die Worte »Boro-Ula« standen. Ganz weit weg – Christian
schätzte mehr als zweihundert Li – waren zwei gekreuzte Hämmerchen gezeichnet, und daneben stand »Alter Goldfundort«. Das
war aber auch alles. Was für ein Unfug, dachte Christian enttäuscht und faltete das Westliche-Blatt zusammen. Er nahm den
Kompass in die Hand. »Jabonah!«, sagte er so sicher, wie es eben ging, und dann ritt er voraus.
Ohnezehen blieb eine Zeitlang neben ihm, um aufzupassen, wie man es mache, und da merkte er, dass es schwierig war.
Vor ihnen lag eine einsame, tote Wüste mit Steinen und dünnem Sand. Der Sand war gelb, die Steine waren gelb, und derBoden, den sie bedeckten, war auch gelb. Wie auf dem Meer sah man in die Unendlichkeit.
Die Pferde begannen zu traben, aber der Hufschlag drang kaum bis zum Ohr, weil er nirgends einen Widerhall fand. Christian
blickte angestrengt auf den Kompass. Die Nadel zeigte nach Norden, wo es genug Anhaltspunkte gegeben hätte. Im Süden, wohin
das Ende der Nadel wies und wo die Zahl 180 stand, war die Wüste ganz für sich und leer. Manchmal gab es einen größeren Stein,
den Christian anpeilte, aber der Stein war schnell vorüber, und es galt, ein neues Merkmal zu finden. Dabei war es ein Glück,
dass die Pferde die einmal eingeschlagene Richtung beibehielten. So konnte Christian die Zügel fallen lassen, den Kompass
in beide Hände nehmen und auf die schwankende Nadel achten. Wenn sie richtig stand und wenn ihr Ende mitten zwischen die Ohren
des Pferdes zeigte, brauchte man nur noch ein bisschen Glück haben, um voraus einen Stein zu finden oder eine Sandverwehung.
Fand man nichts, musste man warten und auf die Nadel starren.
»Es ist anstrengend«, sagte Ohnezehen, »ich sehe es an deinem Gesicht.«
»Man muss überlegen«, erwiderte Christian, »das macht es aus.«
Da ließ ihn Ohnezehen
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